Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
Vom Netzwerk:
Möglichkeit bestünde, das Honorar zu erlassen?«
    »Nun, das wäre noch sehr viel freundlicher von Ihnen. Aber ich glaube nicht, dass mein Bruder das akzeptieren könnte. Er hat immer noch einen geradezu lächerlichen Stolz, wenn es um solche Dinge geht.«
    »Aha«, sagte ich. »Aber da wüsste ich vielleicht eine Möglichkeit, wie wir das umgehen könnten …«
    Seit meinem Besuch auf Hundreds Hall hatte ich diese Idee schon im Hinterkopf; nun gelang es mir endlich, sie in klarere Worte zu fassen. Ich erzählte ihr von den Erfolgen, die ich in der Vergangenheit mit der Elektrotherapie bei der Behandlung von Muskelverletzungen ähnlich der ihres Bruders hatte erzielen können. Ich sagte, dass man Induktionsspulen nur selten außerhalb von Fachabteilungen fand, wo sie normalerweise bei sehr frischen Verletzungen angewandt würden, nach meiner Vermutung hätten sie jedoch einen weitaus größeren Anwendungsbereich.
    »Man muss die niedergelassenen Ärzte von dieser Therapie überzeugen«, sagte ich. »Sie müssen den Beweis sehen. Ich habe zwar die nötige technische Ausrüstung, aber leider findet sich nicht immer der passende Patient für die Anwendung. Wenn ich einen geeigneten Patienten hätte, meine Ergebnisse während der Therapie dokumentieren und schließlich eine wissenschaftliche Veröffentlichung daraus machen würde, nun, dann hätte der Patient mir sozusagen einen Gefallen getan. Ich würde doch nicht im Traum daran denken, dafür noch ein Honorar zu nehmen.«
    Sie kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ich kann da die verschwommenen Umrisse eines wunderbaren Arrangements erahnen.«
    »Genau. Ihr Bruder müsste noch nicht mal in meine Praxis kommen, denn das Gerät lässt sich gut transportieren. Ich könnte es ohne Probleme nach Hundreds Hall mitbringen. Ich kann natürlich nicht beschwören, dass wir damit Erfolge erzielen. Aber wenn ich Ihren Bruder, sagen wir, ein-, zweimal in der Woche verdrahten könnte, vielleicht zwei oder drei Monate lang, dann ist es durchaus möglich, dass wir eine Besserung erzielen. Was halten Sie davon?«
    »Ich finde, es klingt großartig«, sagte sie, als sei sie wirklich begeistert von meinem Vorschlag. »Aber haben Sie keine Angst, damit Ihre kostbare Zeit zu verschwenden? Es gibt doch bestimmt Patienten, die eine solche Therapie viel dringender nötig haben.«
    »Ihr Bruder scheint mir die Therapie schon sehr dringend nötig zu haben«, sagte ich zu ihr. »Und was den Zeitverlust angeht – um ganz ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es meinem Ansehen am Bezirkskrankenhaus schaden wird, wenn ich eine solche Versuchsreihe auf eigene Initiative durchführe.«
    Das stimmte tatsächlich, doch wenn ich wirklich ganz ehrlich zu ihr gewesen wäre, hätte ich noch hinzugefügt, dass ich durchaus auch die Hoffnung hegte, die wohlhabende Oberschicht zu beeindrucken. Vielleicht würden diese Leute, wenn sie von meinen Erfolgen bei Roderick Ayres’ Behandlung hörten, zum ersten Mal in zwanzig Jahren in Erwägung ziehen, ebenfalls nach mir zu schicken, damit ich mir ihre Wehwehchen anschaute. Wir sprachen noch ein, zwei Minuten über meinen Plan, während der Motor im Leerlauf dahintuckerte. Sie wurde immer begeisterter, je mehr sie darüber hörte, und sagte schließlich: »Warum kommen Sie nicht jetzt gleich mit mir zur Farm und unterbreiten Roddie selbst Ihre Idee?«
    Ich blickte auf die Uhr. »Eigentlich muss ich ja noch bei einem Patienten vorbeischauen.«
    »Ach, der kann doch sicher noch ein bisschen warten. Patienten müssen Geduld haben, deshalb heißen sie ja schließlich Patienten … Nur fünf Minuten, um es ihm zu erklären?«
    Sie sprach jetzt wie ein aufgekratztes Schulmädchen, und es fiel mir schwer, mich ihrer Begeisterung zu erwehren. »Na gut«, stimmte ich schließlich zu, bog auf den Feldweg ab, und nach einer kurzen, rumpeligen Fahrt hatten wir den gepflasterten Wirtschaftshof des Bauerngehöfts erreicht. Vor uns lag das Bauernhaus von Hundreds Hall, ein karger viktorianischer Bau. Zu unserer Linken befanden sich ein Pferch mit Kühen und der Melkschuppen. Offenbar waren wir gegen Ende der Melkzeit eingetroffen, denn nur noch eine kleine Gruppe Kühe wartete verdrießlich muhend darauf, aus dem Pferch geholt zu werden. Der Rest, etwa fünfzig, schätzte ich, befand sich bereits auf einer Weide auf der anderen Seite des Hofs.
    Wir stiegen aus und suchten uns zusammen mit Gyp einen Weg über das Kopfsteinpflaster. Das war ziemlich mühselig: Alle

Weitere Kostenlose Bücher