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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Vor dem neogotischen Kamin standen zwei alte lederne Lehnstühle, ganz hübsch zwar, aber abgewetzt und an den Nähten eingerissen. Es gab zwei Fenster mit Vorhängen, eines führte auf die mit Winden überwucherte Steintreppe und die Terrasse hinaus; vor das andere hatte Roderick einen Schreibtisch samt Drehstuhl gestellt und damit den ursprünglich großzügigen Eindruck des breiten Fensters ziemlich verdorben. Offenbar hatte er den Schreibtisch dort vor dem Nordfenster aufgestellt, um möglichst viel Tageslicht einzufangen, doch der so im Licht stehende Tisch, der unter einem Durcheinander aus Papieren, Kontenbüchern, Ordnern, technischen Anleitungen, schmutzigen Teetassen und überquellenden Aschenbechern zu verschwinden drohte, wirkte wie ein Magnet aufs Auge und zog unweigerlich den Blick des Betrachters auf sich, egal wo man im Raum stand. Auch in anderer Hinsicht wirkte der Schreibtisch auf Roderick offenbar wie ein Magnet, denn während er noch mit mir redete, ging er hinüber und suchte in dem Durcheinander herum. Schließlich förderte er einen Bleistiftstummel zutage, dann kramte er in seiner Tasche nach einem Zettel und machte sich daran, von diesem eine Zahlenreihe in eines der Kontenbücher abzuschreiben.
    »Setzen Sie sich doch«, rief er mir über die Schulter zu. »Bin gleich so weit. Aber ich bin gerade erst vom Hof zurückgekommen, und wenn ich mir diese verdammten Zahlen nicht gleich notiere, vergesse ich sie bestimmt.«
    Ich setzte mich und harrte einige Zeit aus. Doch da er keine Anstalten machte, sich zu mir zu setzen, dachte ich mir, dass ich ebenso gut anfangen könnte, mein Gerät vorzubereiten. Also trug ich den Holzkasten herüber, stellte ihn zwischen die beiden abgewetzten Ledersessel, löste den Riegel und nahm die Abdeckung herunter. Ich hatte das Gerät schon häufig benutzt. Es war eigentlich recht einfach, eine Kombination aus einer Spule, einer Trockenzellenbatterie und Metallelektroden, wirkte aber mit seinen Anschlüssen und Drähten ziemlich einschüchternd, und als ich den Kopf wieder hob, sah ich, dass Roderick seinen Schreibtisch verlassen hatte und das Gerät mit einer gewissen Bestürzung musterte.
    »Das ist ja ein richtiges kleines Monster!«, meinte er und zupfte sich an der Lippe. »Wollen Sie es jetzt gleich auf mich loslassen?«
    »Ja«, erwiderte ich mit den verwickelten Drähten in der Hand. »Ich dachte, das hätten wir so vorgehabt. Aber wenn Sie lieber nicht wollen …«
    »Nein, nein, ist schon gut. Wo Sie schon mal hier sind, können wir genauso gut loslegen. Muss ich mich frei machen, oder wie funktioniert das?«
    Ich erwiderte, dass es schon reichen würde, wenn er sich das weit geschnittene Hosenbein bis über das Knie hochkrempelte. Er wirkte erleichtert, dass er sich nicht vor mir ausziehen musste, aber nachdem er seinen Turnschuh und den mehrfach gestopften Socken ausgezogen und das Hosenbein hochgekrempelt hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust und schien sich recht unbehaglich zu fühlen.
    »Es kommt mir vor wie irgendein Ritus bei den Freimaurern. Ich muss doch jetzt keinen Schwur ablegen oder so etwas?«
    Ich lachte. »Zunächst müssen Sie sich bloß hier hinsetzen und sich von mir untersuchen lassen, wenn Sie gestatten. Es wird nicht lange dauern.«
    Er ließ sich schwerfällig auf dem Sessel nieder, und ich hockte mich vor ihn, nahm vorsichtig sein verletztes Bein und streckte es durch. Während sich der Muskel dehnte, stöhnte er vor Schmerz auf.
    »Geht es noch?«, fragte ich. »Ich muss es ein bisschen hin und her bewegen, fürchte ich, um mir ein Bild von der Verletzung zu machen.«
    Das Bein lag schlank in meiner Hand; es war dicht bewachsen mit drahtigen dunklen Haaren, doch die Haut wirkte gelblich und blutleer, und an mehreren Stellen auf Wade und Schienbein waren kahle, glatte rosafarbige Dellen und Wülste. Das Knie war so blass und knotig wie eine seltene Gemüseknolle und stark versteift. An der wenig ausgeprägten, ebenfalls steifen Wadenmuskulatur tastete ich verhärtetes Gewebe. Das Sprunggelenk, das Roderick zum Ausgleich für die fehlende Beweglichkeit der darüberliegenden Muskeln stark überbelastete, sah geschwollen und entzündet aus.
    »Ziemlich hässlich, nicht wahr?«, sagte er mit gedämpfter Stimme, während ich Bein und Fuß in verschiedene Stellungen bog.
    »Nun, die Durchblutung ist schlecht, und es gibt zahlreiche Verwachsungen. Das ist nicht gut. Aber ich habe wirklich schon Schlimmeres gesehen … Wie ist

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