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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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weniger unser einziges Einkommen. Und die Welt hat sich ebenfalls verändert, nicht wahr? Nichts ist mehr so wie früher. Deshalb ist uns auch so sehr daran gelegen, dass Betty bei uns bleibt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es Mutters Laune hebt, dass wir, genau wie früher, nach einem Dienstboten klingeln können, statt selbst in die Küche runterzulaufen, um uns einen Krug heißes Wasser zu holen. Diese Dinge bedeuten nun mal so viel. Wir hatten auf Hundreds immer Dienstboten, müssen Sie wissen, bis der Krieg ausbrach.«
    Wieder sprach sie ganz nüchtern, als würde sie sich mit jemandem aus ihrer eigenen Klasse unterhalten. Doch dann schwieg sie einen Augenblick, rückte befangen auf ihrem Sitz hin und her und sagte schließlich in verändertem Tonfall: »Ach Gott, Sie müssen uns ja für ziemlich oberflächlich halten. Es tut mir leid.«
    Ich erwiderte: »Nein, ganz und gar nicht.«
    Doch mir war klar, was sie meinte, und ihre offensichtliche Befangenheit bewirkte nur, dass ich ebenfalls verlegen wurde. Die Straße, auf die wir abgebogen waren, war ich als kleiner Junge zur selben Jahreszeit oft gegangen, wie mir jetzt einfiel. Ich hatte den Brüdern meiner Mutter Brot und Käse zum Mittagsimbiss gebracht, wenn sie bei der Ernte auf Hundreds halfen. Ohne Frage wären diese Männer ziemlich erheitert gewesen, wenn sie geahnt hätten, dass ich dreißig Jahre später als approbierter Arzt in meinem eigenen Auto die gleiche Straße entlangfahren würde, Seite an Seite mit der Tochter des gnädigen Herrn. Doch plötzlich fühlte ich mich merkwürdig linkisch und fehl am Platz – gerade so, als hätten meine Onkel, schlichte Landarbeiter, die sie waren, mich sofort als Hochstapler entlarvt und ausgelacht, wenn sie mich tatsächlich so hätten sehen können.
    Also sagte ich eine Zeit lang nichts, auch Caroline schwieg, und die ganze frühere Unbefangenheit schien verschwunden. Das war schade, denn der Weg war schön, die Ränder dicht bewachsen mit schweren Hagebuttenbüschen, Roten Spornblumen und dem weißblühenden Wiesenkerbel. Durch das Gebüsch konnte man hin und wieder einen Blick auf die dahinterliegenden Felder erhaschen; einige waren bereits abgeerntet, und Krähen pickten zwischen den Stoppeln herum, auf anderen stand noch der Weizen, und zwischen den hohen gelben Ähren ragten dunkelrote Mohnblumen auf.
    Wir hatten den Feldweg erreicht, der zum landwirtschaftlichen Betrieb von Hundreds führte, und ich verlangsamte das Auto, um abzubiegen. Doch Caroline richtete sich auf, als wolle sie aussteigen.
    »Sie brauchen mich nicht den ganzen Weg da runter zu fahren. Es ist nicht weit.«
    »Sind Sie sicher?«
    »Ganz sicher.«
    »Na gut.«
    Wahrscheinlich hatte sie genug von mir, und ich konnte es ihr kaum verübeln. Doch als ich die Bremse angezogen hatte und der Motor im Leerlauf war, hielt sie mit der Hand auf dem Türgriff inne und wandte sich mir zu. »Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben, Dr. Faraday«, sagte sie unbeholfen. »Es tut mir leid, dass ich vorhin so rumgejammert habe. Sie denken bestimmt das Gleiche, wie die meisten Leute, wenn sie Hundreds heute sehen. Dass wir verrückt sein müssen, weil wir weiter dort leben und versuchen, das Haus so zu halten, wie es einmal war. Dass wir lieber aufgeben sollten. In Wahrheit wissen wir jedoch ganz genau, wie glücklich wir uns schätzen können, dass wir überhaupt dort leben konnten. Und deshalb müssen wir auch den Besitz in Ordnung halten – um unseren Teil der Abmachung einzuhalten, gewissermaßen. Das kann einem manchmal als große Belastung erscheinen.«
    Ihr Tonfall war aufrichtig und ungekünstelt. Sie hatte eine sehr schöne Stimme, tief und melodisch – eine Stimme, die eigentlich zu einer viel attraktiveren Frau gehört hätte und die mich auf eigenartige Weise berührte, dort im warmen Zwielicht des engen Autos.
    Mein komplexes Gefühlsdurcheinander ordnete sich allmählich wieder. »Ich halte Sie ganz und gar nicht für verrückt, Miss Ayres«, sagte ich. »Ich wünschte bloß, es gäbe etwas, was ich tun kann, um Ihrer Familie die Lasten etwas zu erleichtern. Wahrscheinlich spricht da der Arzt in mir. Das Bein Ihres Bruders, zum Beispiel. Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich es mir nicht mal genauer anschauen sollte.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber ich habe es wirklich ernst gemeint, als ich vorhin sagte, dass uns das Geld für eine Behandlung fehlt.«
    »Und wenn die

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