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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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habe ein paar Besorgungen für Mutter gemacht. Aber dann bin ich vom rechten Weg abgekommen. Schauen Sie mal!«
    Sie öffnete vorsichtig das Bündel, und ich sah, dass das, was ich für Punkte auf dem Taschentuch gehalten hatte, in Wahrheit dunkelrote Saftflecken waren. Sie hatte das Taschentuch mit Ampferblättern ausgelegt und mit Brombeeren gefüllt. Sie nahm eine der dicksten Beeren, blies den Staub ab und reichte sie mir. Ich steckte sie in den Mund und spürte, wie sie an meiner Zunge zerplatzte, warm wie Blut und unvorstellbar süß.
    »Sind sie nicht wunderbar?«, fragte sie, während ich die Beere herunterschluckte. Sie gab mir noch eine und nahm sich dann selbst eine. »Mein Bruder und ich sind schon als Kinder immer zum Beerenpflücken hierhergekommen. Für Brombeeren ist es die beste Stelle in der ganzen Grafschaft, ich weiß auch nicht, warum. Überall sonst kann es so trocken sein wie in der Sahara, aber hier sind die Beeren immer gut. Wahrscheinlich gibt es hier eine unterirdische Quelle oder so etwas.«
    Sie wischte sich mit dem Daumen einen Tropfen des dunklen Saftes aus dem Mundwinkel und runzelte in gespieltem Ernst die Stirn. »Aber das war eigentlich ein Familiengeheimnis, das ich nicht hätte ausplaudern dürfen. Ich fürchte, nun muss ich Sie leider umbringen. Oder schwören Sie, das Geheimnis für sich zu behalten?«
    »Ich schwöre«, sagte ich.
    »Heiliges Ehrenwort?«
    Ich lachte. »Heiliges Ehrenwort.«
    Vorsichtig gab sie mir noch eine Beere. »Na, dann muss ich Ihnen wohl vertrauen. Wahrscheinlich ist es auch ziemlich schlechter Stil, einen Arzt umzubringen. Dürfte gleich nach dem Erschießen eines Albatrosses rangieren. Und es ist bestimmt ziemlich schwierig zu bewerkstelligen, denn vermutlich kennen Sie selbst die ganzen Tricks am besten!«
    Sie schob sich das Haar zurück und schien sich zu freuen, dass sie eine Gelegenheit hatte, sich zu unterhalten. Sie stand etwa einen Meter von meinem Autofenster entfernt, groß und ungezwungen auf ihren stämmigen Beinen, und da ich nicht unnötig Benzin verbrauchen wollte, schaltete ich den tuckernden Motor ab. Das Auto schien sich ein Stück zu senken, als sei es froh, von seinen Anstrengungen erlöst zu werden, und in der plötzlichen Stille wurde mir die verbrauchte, sirupartige Schwere der Sommerluft bewusst. Aus der Ferne, von den Feldern, hörte man gedämpft die Geräusche der Erntemaschinen und rufende Stimmen. An den langen, hellen Augustabenden arbeiteten die Erntehelfer bis nach elf Uhr.
    Caroline suchte noch ein paar Beeren heraus. Mit schräg gelegtem Kopf meinte sie: »Sie haben sich noch gar nicht nach Betty erkundigt.«
    »Das wollte ich gerade tun«, erwiderte ich. »Wie geht es ihr? Gab es noch mal irgendwelche Probleme?«
    »Nicht einen Mucks! Sie hat einen Tag im Bett verbracht und ist dann auf wundersame Weise genesen. Seitdem haben wir unser Bestes getan, damit sie sich wohler fühlt. Wir haben ihr gesagt, dass sie die Hintertreppe nicht mehr benutzen muss, wenn sie das nicht möchte. Und Roddie hat ein Radio für sie aufgetrieben; das hat sie unheimlich aufgemuntert. Offenbar hatten sie bei ihr zu Hause ein Radio, doch das ist bei irgendeinem Streit kaputtgegangen. Jetzt muss einer von uns einmal in der Woche nach Lidcote fahren, um die Batterie wiederaufzuladen, aber wir denken, dass es die Sache wert ist, solange Betty nur bei Laune bleibt. Aber sagen Sie mir die Wahrheit. Diese Medizin, die Sie ihr geschickt haben, war doch bloß Kreide, nicht wahr? Hat sie überhaupt irgendetwas gehabt?«
    »Das kann ich Ihnen unmöglich erzählen. Sie wissen schon, das Arztgeheimnis. Außerdem würden Sie mich womöglich wegen eines ärztlichen Kunstfehlers verklagen.«
    »Ha!« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »In der Hinsicht brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir könnten uns die Anwaltskosten gar nicht leisten.«
    Sie wandte den Kopf, da Gyp mehrmals kurz aufbellte. Während wir uns unterhielten, hatte er sich schnüffelnd durch das Gras am Rande der Straße bewegt, doch nun hörte man aufgeregtes Flattern auf der anderen Seite der Hecke, und er verschwand in einer Lücke zwischen den Brombeerbüschen.
    »Er jagt einem Vogel hinterher, der dumme Kerl«, sagte Caroline. »Das waren früher mal unsere Vögel, wissen Sie, doch nun gehören sie Mr. Milton. Dem wird es gar nicht gefallen, wenn Gyp sich eines seiner Rebhühner schnappt. Gyp! Gyppo! Komm her! Komm sofort zurück, du dummer Hund!«
    Sie warf mir hastig

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