Der Besucher - Roman
das?«
»Aua! Grässlich!«
»Und das?«
Er zuckte zurück. »Mein Gott! Was machen Sie da? Wollen Sie mir das ganze Bein abreißen?«
Ich nahm vorsichtig das Bein wieder in die Hände, brachte es in seine normale Stellung und verbrachte einige Zeit nur damit, die steife Wadenmuskulatur zwischen meinen Fingern zu kneten und zu erwärmen. Dann machte ich mich daran, ihn an das Gerät zu schließen. Ich tränkte Mullkompressen mit Salzlösung, legte diese unter die Elektrodenplatten, dann befestigte ich die Platten mit verstellbaren Bändern an seinem Bein. Er beugte sich vor, um mir dabei zuzuschauen, und wirkte inzwischen sehr viel interessierter. Als ich ein paar letzte Einstellungen am Gerät vornahm, sagte er wie ein kleiner Junge: »Das ist der Kondensator, nicht wahr? Ah ja, ich sehe schon. Und da unterbrechen Sie wahrscheinlich den Stromfluss … Sagen Sie, haben Sie überhaupt eine Genehmigung für das Gerät? Ich hoffe doch, mir fliegen nicht gleich die Funken aus den Ohren!«
»Das hoffe ich auch«, entgegnete ich. »Aber sehen Sie es doch mal so: Der letzte Patient, den ich an das Ding angeschlossen habe, braucht jetzt wenigstens kein Geld mehr für Dauerwellen auszugeben!«
Er blinzelte, hatte meinen scherzhaften Tonfall wohl nicht richtig bemerkt und schien mich einen Moment lang ernst zu nehmen. Dann begegnete er meinem Blick und schaute mir zum ersten Mal an diesem Tag – ja, vielleicht auch zum ersten Mal überhaupt – in die Augen, nahm mich endlich richtig wahr – und lächelte. Das Lächeln hob seine Mundwinkel, veränderte seine Gesichtszüge völlig und lenkte von seinen Narben ab. Nun konnte man die Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Mutter erkennen.
»Sind Sie bereit?«, fragte ich.
Er verzog das Gesicht und wirkte dadurch noch jungenhafter als zuvor. »Ich denke schon.«
»Gut, dann geht es jetzt los!«
Ich betätigte den Schalter. Er schrie auf, sein Bein zuckte unwillkürlich nach vorn. Dann begann er zu lachen.
Ich fragte: »Tut es weh?«
»Nein, es kribbelt bloß ein bisschen. Jetzt wird es auf einmal wärmer. Soll das so sein?«
»Genau so. Wenn das Wärmegefühl nachlässt, sagen Sie mir Bescheid, und ich drehe es etwas weiter auf.«
Wir verbrachten fünf oder zehn Minuten so, bis das Wärmegefühl in seinem Bein konstant blieb, was bedeutete, dass der maximale Stromfluss erreicht war. Dann überließ ich das Gerät eine Weile sich selbst und setzte mich auf den zweiten Ledersessel. Roderick kramte in seiner Hosentasche nach Tabak und Zigarettenpapier. Doch ich wollte nicht dabei zusehen, wie er sich noch einen seiner furchtbaren »Sargnägel« drehte, deshalb holte ich mein eigenes Zigarettenpäckchen und Feuerzeug hervor, und wir nahmen uns jeder eine Zigarette. Er zog den Rauch ein, schloss die Augen und legte den Kopf locker in den Nacken zurück.
»Sie sehen müde aus!«, sagte ich teilnahmsvoll.
Sofort bemühte er sich wieder um eine aufrechte Sitzhaltung. »Alles bestens. Ich bin nur schon seit sechs Uhr heute Morgen auf den Beinen, zum Melken. Bei diesem Wetter ist das natürlich gar nicht so schlimm; im Winter ist es unangenehmer … Und Makins ist als Milchbauer leider auch keine große Hilfe.«
»Nein? Wieso nicht?«
Er veränderte seine Haltung wieder und antwortete zögerlich: »Ach, eigentlich dürfte ich mich gar nicht beklagen. Er hatte es auch ziemlich schwer wegen dieser verdammten Hitzewelle. Wir haben Milch verloren, wir haben Heu verloren; wir mussten schon anfangen, die Herde mit dem Wintervorrat zu füttern. Aber er hat einen Haufen unrealistischer Vorstellungen und keine Ahnung, wie er sie umsetzen kann. Darum soll ich mich dann kümmern.«
»Was für Vorstellungen denn?«, erkundigte ich mich. Immer noch widerwillig antwortete er: »Seine Lieblingsidee ist, dass ich eine Wasserleitung vom Hauptrohr hierherlegen lassen soll. Und wenn ich schon mal dabei bin, soll ich auch gleich Strom legen lassen. Er meint, dass die Pumpe kurz davor ist, den Geist aufzugeben, selbst wenn sich der Brunnen noch mal füllt. Er möchte, dass ich sie ersetze, und neuerdings beklagt er sich auch noch, dass der Melkschuppen unsicher sei. Ich soll ihn abreißen und einen aus Stein bauen. Mit einem gemauerten Melkschuppen und einer Melkmaschine könnten wir Markenmilch produzieren und mehr Gewinn machen. Er redet von nichts anderem mehr.«
Er griff neben sich auf den Tisch nach einem bronzenen Aschenbecher, in dem sich schon zahllose, an Würmer erinnernde
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