Der Besucher - Roman
Caroline und ich verstanden den Wink und ließen ihn allein. Er versprach vage, dass er später zum Tee zu uns stoßen würde.
Während wir durch den Korridor gingen, meinte seine Schwester kopfschüttelnd: »Er wird jetzt stundenlang da drin hocken. Ich wünschte, er würde sich die Arbeit mit mir teilen, doch das tut er nicht. … Aber sein Bein war schon viel besser, nicht wahr? Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie ihm so helfen.«
»Er könnte sich auch selbst helfen«, sagte ich. »Er müsste nur die richtigen Übungen machen. Schon ein wenig einfache Massage täglich würde die Beweglichkeit des Muskels verbessern … Ich habe ihm ein Mittel zum Einreiben gegeben. Können Sie bitte dafür sorgen, dass er es auch verwendet?«
»Ich werde mein Bestes tun. Aber Sie haben wahrscheinlich gemerkt, wie achtlos und gleichgültig er sich selbst gegenüber ist.« Sie verlangsamte ihre Schritte. »Was haben Sie für einen Eindruck von ihm, ganz ehrlich?«
»Ich denke, er ist im Grunde sehr gesund«, erwiderte ich. »Ich finde übrigens auch, dass er sehr sympathisch ist. Schade nur, dass er sein Zimmer so eingerichtet hat, dass das Geschäftliche alle anderen Dinge verdrängt.«
»Ja, ich weiß. Unser Vater hat das Gut von der Bibliothek aus geführt. Roderick benutzt Vaters alten Schreibtisch, aber ich kann mich nicht erinnern, dass der Tisch früher einmal so chaotisch ausgesehen hätte – und damals waren vier landwirtschaftliche Betriebe zu verwalten, nicht bloß einer. Allerdings hatten wir noch einen Verwalter, der uns half, einen gewissen Mr. McLeod. Leider musste er uns während des Krieges verlassen. Er hatte ein eigenes Büro, gleich dort hinten. Diese Seite des Hauses war der ›Männerflügel‹, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dort gab es immer viel zu tun. Heute dagegen könnte dieser ganze Bereich des Hauses – mal abgesehen von Rodericks Zimmer – genauso gut gar nicht vorhanden sein.«
Sie sagte das beiläufig, aber für mich war die Vorstellung neu und befremdlich, dass ein Haus über so viele ungenutzte Zimmer verfügte, die man einfach zuschließen und vergessen konnte. Als ich das Caroline sagte, lachte sie wieder ihr bitteres Lachen.
»Die Begeisterung darüber ist rasch verflogen, das kann ich Ihnen versichern. Man betrachtet die Zimmer ziemlich schnell als eine Art lästige, arme Verwandtschaft. Man kann sie nicht einfach sich selbst überlassen. Sie haben Unfälle oder werden krank, und am Ende haben sie mehr Geld gekostet, als wenn man sie von vornherein aufs Altenteil geschickt hätte. Ein Jammer, wirklich, denn es gibt hier einige sehr hübsche Ausstattungsdetails. Ich könnte Sie mal durchs Haus führen, wenn Sie möchten. Aber nur, wenn Sie versprechen, den Blick von den schlimmsten Stellen abzuwenden. Ein Kurzrundgang, die Schnuppertour gewissermaßen. Was halten Sie davon?«
Anscheinend wollte sie mir das Haus wirklich gern zeigen, und ich willigte begeistert ein, gab aber zu bedenken, dass ihre Mutter uns vielleicht erwartete. »Ach, Mutter ist durch und durch edwardianisch. Sie hält es für eine barbarische Unsitte, den Tee vor vier Uhr einzunehmen. Wie spät ist es jetzt?« Es war gerade halb vier vorbei. »Wir haben noch reichlich Zeit. Fangen wir doch im vorderen Teil an.«
Sie schnipste mit den Fingern nach Gyp, der schon mal vorangetrottet war, und führte mich wieder zurück an der Tür ihres Bruders vorbei.
»Die Halle haben Sie natürlich schon gesehen«, sagte sie, als wir dort ankamen und ich mein Therapiegerät und die Tasche abgestellt hatte. »Der Boden ist aus Carrara-Marmor, acht Zentimeter dick – daher wurden die darunterliegenden Räume auch mit einer Gewölbedecke angelegt. Es ist eine Höllenarbeit, diesen Boden zu bohnern. Nun zur Treppe: Sie wurde bei ihrem Einbau als architektonisches Meisterwerk bestaunt, wegen der Empore im zweiten Stock; es gibt nicht viele, die so gebaut sind. Mein Vater hat immer gesagt, es sei wie in einem Kaufhaus. Meine Großmutter dagegen wollte sie nie benutzen; sie sagte immer, sie bekäme Höhenangst. Da drüben ist das ehemalige Tageswohnzimmer, doch das zeige ich Ihnen lieber nicht; es ist ziemlich leer und schäbig. Gehen wir lieber hier hinein.«
Sie öffnete die Tür zu einem verdunkelten Zimmer, das sich als hübsche, ziemlich große Bibliothek erwies, nachdem sie erst einmal die Fensterläden aufgeklappt und etwas Licht eingelassen hatte. Die meisten Bücherregale waren jedoch mit Laken verhängt, um
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