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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Zigarettenstummel befanden. Ich beugte mich hinüber, klopfte die Asche von meiner Zigarette und sagte: »Nun, ich fürchte, was die Milchproduktion angeht, hat er recht.«
    Roderick lachte. »Ich weiß, dass er recht hat. Er hat mit allem recht, was er sagt. Der Hof ist total am Ende. Aber was zum Teufel kann ich daran ändern? Er fragt mich andauernd, warum ich nicht ein wenig Kapital freisetzen kann. Es klingt, als hätte er den Satz in irgendeiner Zeitschrift gelesen. Ich habe ihm ganz offen gesagt, dass Hundreds über keinerlei Kapital verfügt, das man freisetzen könnte. Doch er glaubt mir nicht. Er sieht bloß, dass wir hier in diesem riesigen Haus leben, und denkt sich, wir würden auf einer Goldgrube sitzen. Er sieht ja nicht, wie wir nachts mit Kerzen und Petroleumlampen durch die Flure tapsen, weil uns das Öl für den Generator ausgegangen ist. Er sieht nicht, wie meine Schwester die Böden scheuert und das Geschirr mit kaltem Wasser spült…« Er machte eine missmutige Handbewegung in Richtung seines Schreibtischs. »Ich habe an die Bank geschrieben und einen Antrag auf eine Baugenehmigung gestellt. Gestern habe ich mit einem Mann von der örtlichen Behörde über die Wasserleitung und den Stromanschluss gesprochen. Er hat mir nicht besonders viel Mut gemacht. Er sagte, wir liegen hier viel zu weit draußen, als dass es sich für sie lohnen würde, die Leitungen zu legen. Aber natürlich muss die ganze Sache trotzdem zu Papier gebracht werden. Sie wollen Pläne und Gutachten von Sachverständigen und weiß der Teufel, was noch alles. Und das wahrscheinlich bloß, damit der Antrag erst mal durch zehn verschiedene Ämter gehen kann, ehe er dann endgültig abgelehnt wird.«
    Zunächst hatte er nur widerwillig zu erzählen begonnen, doch nun war es, als hätte er eine Art mechanische Feder in sich, die durch sein Reden immer weiter gedreht wurde: Während er sprach, beobachtete ich, wie sich sein fein geschnittenes, vernarbtes Gesicht verhärtete und er rastlos die Hände hob und wieder sinken ließ, und plötzlich fiel mir wieder ein, dass David Graham von einem »nervlichen Problem« nach seinem Absturz berichtet hatte. Die ganze Zeit über war mir Rodericks Benehmen relativ ungezwungen erschienen, doch nun ging mir auf, dass hinter seinem lässigen, fast gleichgültigen Verhalten möglicherweise etwas ganz anderes steckte: vielleicht ein Erschöpfungszustand, vielleicht eine mühsam aufrechterhaltene Verdrängung der Angst, vielleicht sogar eine ständige Anspannung, die ihn so sehr lähmte, dass er träge wirkte.
    Er bemerkte meinen prüfenden Blick und verstummte. Wieder zog er heftig an seiner Zigarette und ließ sich Zeit beim Ausatmen. Dann sagte er in verändertem Tonfall: »Aber hören wir lieber auf mit dem Thema. Das langweilt Sie sicherlich …«
    »Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. »Ich würde gern noch mehr erfahren.«
    Doch er war offenbar entschlossen, das Thema zu wechseln, und fünf oder zehn Minuten lang sprachen wir über andere Dinge. Während der Unterhaltung beugte ich mich mehrmals vor, untersuchte sein Bein und fragte ihn, wie es seinem Muskel ginge. »Bestens, alles gut«, antwortete er jedes Mal, doch ich sah, dass sein Gesicht leicht errötet war, und vermutete daher, dass er ein wenig litt. Bald wurde deutlich, dass die Haut ihn zu jucken begann, denn er rieb unruhig am Rand der Elektroden herum. Als ich das Gerät schließlich abschaltete und die Bänder abnahm, rieb er sich energisch mit den Fingernägeln über die Wade, dankbar, dass er endlich befreit war.
    Das behandelte Fleisch war, wie ich nicht anders erwartet hatte, heiß und feucht, beinahe lila. Ich trocknete die Stelle ab, verteilte Puder darauf und verbrachte noch ein paar Minuten damit, den Muskel mit den Fingern durchzukneten. Doch es fiel ihm ganz offensichtlich leichter, an ein unpersönliches Gerät angeschlossen zu sein; dass ich nun vor ihm hockte und sein Bein mit warmen, gepuderten Händen bearbeitete, konnte er sehr viel schlechter ertragen. Er rutschte unruhig hin und her, und schließlich ließ ich ihn aufstehen. Er zog sich Socke und Turnschuh an und rollte sein Hosenbein wieder herunter, alles ohne ein Wort zu sprechen. Doch nachdem er probeweise ein paar Schritte im Zimmer umhergegangen war, sagte er beinahe freudig überrascht: »Wissen Sie was, das ist gar nicht so übel. Wirklich, gar nicht so übel.«
    Nun wurde mir erst bewusst, wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass die Behandlung einen

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