Der Besucher - Roman
begrüßen. Das ist das Schlimme, wenn man einen landwirtschaftlichen Betrieb führt – ständig geschieht etwas Unvorhergesehenes.« Sie hob den Kopf und blickte sich um; einen Moment lang dachte ich, sie wolle mich heranwinken. Doch stattdessen rief sie nach Betty.
»Betty, bitte lauf doch eben mal zu Mr. Rodericks Zimmer und sieh nach, was ihn so lange aufhält. Und sag ihm, dass wir alle auf ihn warten.«
Betty lief angesichts der Wichtigkeit des Auftrags rot an und machte sich auf den Weg. Ein paar Minuten später kehrte sie zurück und sagte, dass Roderick sich gerade umzog und so bald wie möglich bei uns sein würde.
Doch der Abend zog sich dahin, und Rod tauchte nach wie vor nicht auf. Unsere Gläser wurden wieder gefüllt, und das kleine Mädchen wurde lebhafter und krakeelte nach einem weiteren Schluck Wein. Irgendjemand meinte, dass sie bestimmt müde sei und was für ein tolles Vergnügen es doch sein müsse, dass sie heute so lange aufbleiben dürfe, woraufhin ihre Mutter ihr wieder über das Haar strich und nachsichtig sagte: »Ach, wir lassen sie eigentlich immer so lange herumrennen, bis sie von allein umfällt. Ich sehe keinen Sinn darin, sie früh ins Bett zu schicken, bloß weil es so üblich ist. Das verursacht bloß alle möglichen Neurosen.«
Das Mädchen selbst bestätigte mit schriller, hektischer Stimme, dass es niemals vor Mitternacht zu Bett ginge, dass man ihm außerdem regelmäßig erlauben würde, nach dem Abendessen Brandy zu trinken, und dass es schon mal eine halbe Zigarette geraucht hätte.
»Also, hier jedenfalls trinkst du lieber keinen Brandy und rauchst auch keine Zigaretten«, sagte Mrs. Rossiter, »denn ich kann mir kaum vorstellen, dass Dr. Faraday das bei Kindern gutheißen würde.«
Ich bestätigte mit gespielter Strenge, dass ich das sicherlich nicht würde, ganz bestimmt nicht. Caroline warf ruhig, aber deutlich ein: »Und ich würde das genauso wenig. Es ist schon schlimm genug, dass die kleinen Schlingel alle Orangen zugeteilt bekommen«, woraufhin Mr. Morley den Kopf wandte und sie erstaunt ansah. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen, das aber sogleich von Gillian unterbrochen wurde. Lauthals erklärte sie, dass niemand sie davon abhalten könne, eine Zigarette zu rauchen, und sie, wenn ihr wirklich danach wäre, sogar Zigarren rauchen würde.
Das arme Mädchen. Sie besaß nicht gerade das, was meine Mutter »ein einnehmendes Wesen« genannt hätte. Aber ich glaube, wir waren trotzdem alle froh, dass sie da war, denn genau wie ein Kätzchen, das mit einem Wollknäuel spielt, bot sie uns etwas, was wir anschauen und worüber wir lächeln konnten, wenn die Unterhaltung sich dahinschleppte. Nur Mrs. Ayres blieb, wie ich bemerkte, nicht ganz bei der Sache, offensichtlich war sie in Gedanken bei Roderick. Als er nach weiteren fünfzehn Minuten immer noch nicht aufgetaucht war, schickte sie Betty noch einmal zu seinem Zimmer, und diesmal kehrte das Mädchen beinahe sofort zurück. Sie wirkte verstört und lief rasch zu Mrs. Ayres, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Ich wurde zu diesem Zeitpunkt von Miss Dabney mit Beschlag belegt – sie wollte einen Rat zu einem ihrer Leiden – und konnte mich nicht loseisen, ohne dass es unhöflich gewirkt hätte; sonst wäre ich vielleicht zu Mrs. Ayres hinübergegangen. So musste ich zusehen, wie Mrs. Ayres sich bei den Gästen entschuldigte und verschwand, um selbst nach Roderick zu schauen.
Danach zog sich die Veranstaltung zäh dahin; selbst das kleine Mädchen vermochte uns nicht abzulenken. Irgendjemand bemerkte, dass es immer noch regnen würde, und wir alle wandten die Köpfe dankbar dem Prasseln des Regens auf den Fensterscheiben zu und diskutierten über das Wetter und seine Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Diana Baker-Hyde entdeckte ein Grammophon und einen Schrank mit Platten und schlug vor, ob wir nicht ein bisschen Musik hören sollten. Doch offenbar sagten ihr die Platten nicht zu, denn nachdem sie sie rasch durchgeschaut hatte, gab sie die Idee enttäuscht wieder auf.
»Und was ist mit dem Klavier?«, fragte sie dann.
»Das ist kein Klavier, du Banause«, sagte ihr Bruder und schaute in die Runde. »Das ist ein Spinett, oder?«
Als sich herausstellte, dass es sich in Wahrheit um ein flämisches Cembalo handelte, rief Mrs. Baker-Hyde: »Nein, wirklich? Das ist ja wunderbar! Und kann man darauf spielen, Miss Ayres? Oder ist es zu alt und empfindlich? Tony kann nämlich jedes Tasteninstrument
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