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Der Besucher - Roman

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Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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außerhalb unseres Blickfelds. Ihre Mutter drehte sich, wie ich bemerkte, immer wieder zu ihr hin, als habe sie Angst, dass Gyp nach ihr schnappen könnte, und einmal rief sie: »Gillie, Schätzchen, sei vorsichtig!«, woraufhin Caroline leise schnaubte, denn Gyp war der sanftmütigste Hund, den man sich vorstellen konnte; es bestand höchstens Gefahr, dass dem armen Tier das Geschnatter und ständige Kopfgetätschel des Kindes irgendwann lästig würde. Folglich drehte sich auch Caroline immer mal wieder zu Gillian um, genau wie Mrs. Baker-Hyde. Ab und zu blickten auch Helen Desmond, Miss Dabney oder einer der Rossiters zu dem kleinen Mädchen hinüber, und auch ich folgte mit dem Kopf von Zeit zu Zeit dem Geschnatter. Tatsächlich würde ich so weit gehen zu behaupten, dass Betty wahrscheinlich die Einzige war, die Gillian nicht beachtete. Nachdem sie mit dem Toast herumgegangen war, hatte sie sich in die Nähe der Tür begeben und stand dort mit gesenktem Blick, genau wie man es ihr beigebracht hatte. Und dennoch – es war eigenartig, aber keiner von uns konnte hinterher sagen, dass er zu Gillian hinübergeschaut hatte, als der Vorfall geschah.
    Doch wir alle hörten die Geräusche – furchtbare Geräusche. Noch heute kann ich sie im Geiste hören – eine Art heftiges Aufjaulen von Gyp, gleich gefolgt von Gillians Kreischen, einem einzigen schrillen Ton, der sich dann in ein dünnes, lang gezogenes Wimmern verwandelte. Ich glaube, der arme Hund war ebenso erschrocken wie wir anderen auch: Er sprang in einem Satz vom Fenster weg, so dass der Vorhang sich im Luftzug bauschte, und lenkte uns einen Augenblick von dem Kind ab. Dann sah eine der Frauen – wer genau, weiß ich nicht mehr –, was passiert war, und stieß einen Schrei aus. Mr. Baker-Hyde – oder vielleicht auch sein Schwager – brüllten: » Mein Gott! Gillian!« Die beiden Männer machten einen Satz Richtung Fenster, dabei blieb einer mit dem Fuß an einem losen Teppichsaum hängen und wäre fast gestürzt. Ein Glas wurde hastig auf dem Kaminsims abgesetzt und fiel splitternd ins Feuer. Einen Moment lang war das kleine Mädchen hinter einem Durcheinander von dicht gedrängten Körpern vor mir verborgen. Ich sah nur ihren nackten Arm und ihre Hand, über die Blut lief. Selbst da dachte ich noch – wohl ausgelöst durch das Geräusch des splitternden Glases –, dass eine Scheibe zerbrochen sei und sie sich am Arm geschnitten hätte und Gyp sich ebenfalls verletzt hätte. Doch Diana Baker-Hyde war von ihrem Platz aufgesprungen, drängte sich zu ihrer Tochter und begann zu schreien, und als ich näher kam, sah ich den Grund: Das Blut kam nicht von Gillians Arm, sondern aus ihrem Gesicht. Wange und Lippe hingen herab wie rohe Fleischlappen; sie waren praktisch abgetrennt worden. Gyp hatte sie gebissen.
    Das arme Kind war weiß und starr vom Schock. Ihr Vater hockte neben ihr und hielt seine zitternde Hand vor ihr Gesicht – hilflos näherte er sich mit den Fingern und zog sie wieder zurück, unschlüssig, ob er die Wunde berühren sollte oder nicht; unschlüssig, was er überhaupt tun sollte. Ich stand plötzlich neben ihm, ohne dass ich mich erinnern konnte, wie ich dahin geraten war. Vermutlich hatte mein Berufsinstinkt das Kommando übernommen. Ich half Mr. Baker-Hyde, sie hochzuheben; wir trugen sie zum Sofa und legten sie flach hin; etliche Taschentücher wurden hervorgezogen und an ihre Wange gepresst – eines mit zarter Spitze und Stickereien, das Helen Desmond gehörte, war augenblicklich dunkelrot durchtränkt. Ich tat, was ich konnte, um die Blutung zu stillen und die Wunde zu säubern, doch es war schwierig. Solche Verletzungen sehen zwar immer schlimmer aus, als sie tatsächlich sind, vor allem bei einem Kind, doch ich hatte gleich gesehen, dass es eine sehr hässliche Bisswunde war.
    »Mein Gott!«, sagte Peter Baker-Hyde wieder. Er und seine Frau hielten die Hände ihrer Tochter umklammert; die Frau schluchzte. Beide hatten Blut an ihrer Abendgarderobe – ich glaube, das hatten wir alle –, und das grelle Licht des Kronleuchters ließ das Blut noch grässlicher erscheinen. »Mein Gott! Schauen Sie sie bloß an!« Mr. Baker-Hyde fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Was zum Teufel ist da passiert? Warum hat denn keiner … Was ist da bloß passiert …«
    »Lassen Sie’s gut sein!«, sagte ich mit ruhiger Stimme. Ich hielt die Taschentücher immer noch fest auf die Wunde gepresst und überlegte rasch, was zu tun war.
    »Sehen Sie sie

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