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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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spielen. Schau mich doch nicht so an, Tony, du kannst das, und das weißt du auch!«
    Ohne einen Blick oder ein Wort an Caroline zu richten, stand ihr Bruder vom Sofa auf, ging zum Cembalo hinüber und schlug eine Taste an. Der Ton klang wundersam, wenn auch reichlich verstimmt; begeistert von dem Klang des Instruments ließ er sich auf dem Hocker nieder und gab eine Salve wilder Jazzmusik zum Besten. Caroline blieb einen Moment allein auf dem Sofa sitzen und zupfte an einem Fädchen herum, das sich aus einem ihrer silbernen Handschuhe gelöst hatte. Dann stand sie abrupt auf und trat zum Kamin, um Holzscheite nachzulegen.
    Kurz darauf kehrte Mrs. Ayres zurück. Sie warf Mr. Morley an den Tasten einen überraschten und etwas schockierten Blick zu, und als Mrs. Rossiter und Helen Desmond hoffnungsvoll fragten: »Immer noch keine Spur von Roderick?«, schüttelte sie den Kopf.
    »Ich fürchte, Roderick fühlt sich nicht ganz wohl«, sagte sie, während sie die Ringe an ihren Fingern drehte. »Er wird uns heute Abend wohl gar keine Gesellschaft mehr leisten können. Er lässt sich entschuldigen, es tut ihm sehr leid.«
    »Ach, wie schade!«
    Caroline blickte auf. »Kann ich irgendwas für ihn tun, Mutter?«, erkundigte sie sich. Auch ich trat vor und stellte die gleiche Frage. Doch Mrs. Ayres erwiderte nur: »Nein, nein, nicht nötig. Ich habe ihm ein Aspirin gegeben. Er hat sich bloß bei der Arbeit auf dem Hof etwas übernommen, sonst nichts.«
    Sie nahm ihr Glas und ging zu Mrs. Baker Hyde, die voll Mitgefühl sagte: »Seine Verletzung, nehme ich an?«
    Mrs. Ayres zögerte einen Moment und nickte dann – und da wurde mir klar, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, denn Rodericks Bein konnte zwar sehr lästig sein, hatte ihm aber – vor allem dank meiner Behandlung – schon einige Wochen keine größeren Probleme mehr bereitet. Doch in diesem Augenblick schaute sich Mr. Rossiter unter den Anwesenden um und meinte: »Der arme Roderick. Und dabei war er früher ein so lebhafter Junge. Können Sie sich noch daran erinnern, wie er und Michael Morton mal mit dem Auto des Lehrers abgehauen sind?«
    Das schien den anderen eine Art Stichwort zu geben und rettete die Veranstaltung in gewisser Weise: Es dauerte zwei oder drei Minuten, bis diese Anekdote erzählt war, und sie wurde gleich von der nächsten gefolgt. Wie es schien, hatte jeder irgendwelche netten Erinnerungen an Roderick, und vermutlich stimmte die Tragik seiner Situation – erst die Kriegsverletzung und dann die Tatsache, dass er schon in so jungen Jahren in die Pflicht als Großgrundbesitzer genommen wurde – die Anwesenden noch gewogener. Doch wieder einmal konnte ich wenig zum Gespräch beitragen, und auch für die Leute von Standish war das Thema kaum von Interesse. Mr. Morley fuhr mit seinem misstönenden Geklimper auf dem Cembalo fort. Die Baker-Hydes hörten sich die Anekdoten zwar höflich, aber mit einigermaßen gelangweilter Miene an; bald flüsterte Gillian ihrer Mutter lautstark zu, sie müsse mal auf die Toilette, und Mrs. Baker-Hyde führte sie nach einem kurzen Gespräch mit Caroline nach draußen. Ihr Mann nahm die Gelegenheit wahr, sich von der Gruppe zu entfernen und ein wenig im Raum umherzuschlendern. Gerade ging auch Betty mit einem Tablett Anchovis-Toasts herum, und schließlich trafen sie aufeinander.
    »Hallo«, hörte ich ihn zu ihr sagen. Ich war gerade auf dem Weg zur Anrichte, um Miss Dabney ein Glas Limonade zu holen. »Sie haben aber wirklich viel zu tun, finde ich. Erst müssen Sie unsere Mäntel schleppen; jetzt bringen Sie die Sandwiches. Gibt es denn keinen Butler oder irgendjemanden, der Ihnen helfen könnte?«
    Vermutlich war das die zwanglose, moderne Art, sich mit Dienstboten zu unterhalten. Aber es entsprach nicht der Art und Weise, in der Mrs. Ayres Betty anlernte, und ich sah, wie Betty ihn einen Moment verständnislos anstarrte, als sei sie unsicher, ob er wirklich eine Antwort erwartete. Schließlich erwiderte sie: »Nein, Sir.«
    Er lachte. »Na, das ist ja allerhand. An Ihrer Stelle würde ich ganz schnell einer Gewerkschaft beitreten. Aber eins muss ich sagen: Ihr fescher Kopfputz gefällt mir!« Er streckte die Hand aus und schnipste locker gegen die Rüsche an ihrem Häubchen. »Ich frage mich, wie unser Mädchen dreinschauen würde, wenn wir versuchen würden, ihr so etwas aufzusetzen!«
    Den letzten Satz hatte er mehr an mich als an Betty gerichtet, da er gerade zufällig meinem Blick begegnet war.

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