Der Besucher - Roman
bloß an!«
»Sie steht unter Schock, aber sie ist nicht in ernster Gefahr. Doch sie muss genäht werden. Mit etlichen Stichen, fürchte ich, und das so schnell wie möglich.«
»Genäht?«, rief er entgeistert. Ich glaube, er hatte vergessen, dass ich Arzt bin.
Ich sagte: »Ich habe meine Tasche dabei, draußen im Auto. Mr. Desmond, würden Sie …«
»Ja, natürlich«, erwiderte Bill Desmond atemlos und eilte aus dem Zimmer.
Als Nächstes rief ich Betty. Sie war zurückgeblieben, als alle anderen zu Gillian gestürmt waren, und betrachtete erschrocken das Geschehen – beinahe so blass wie Gillian selbst. Ich trug ihr auf, nach unten zu gehen, einen Kessel Wasser aufzusetzen und Decken und ein Kissen zu holen. Und dann nahm ich vorsichtig das kleine Mädchen auf den Arm, mit Mrs. Baker-Hyde an meiner Seite, die das Bündel Taschentücher ungeschickt an das Gesicht ihrer Tochter hielt. Ihre Finger zitterten, so dass die silbernen Armbänder klimpernd hin und her rutschten. Sogar durch Hemd und Jackett konnte ich noch spüren, wie kalt der Körper des Mädchens war. Ihr Blick war starr und sie schwitzte vom Schock. Ich sagte: »Wir müssen sie runter in die Küche tragen.«
»In die Küche?«, fragte ihr Vater.
»Ich brauche Wasser.«
Da verstand er. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie sie hier nähen wollen? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Bestimmt ist doch ein Krankenhaus … eine Praxis … Können wir nicht irgendwo anrufen?«
»Bis zum nächsten Krankenhaus sind es neun Meilen«, sagte ich. »Und gut fünf bis zu meiner Praxis. Glauben Sie mir, mit einer solchen Wunde würde ich in einer Nacht wie dieser nicht gern über die Feldwege fahren. Je eher wir sie nähen, desto besser. Wir müssen auch an den Blutverlust denken.«
»Himmelherrgott, Peter! Nun lass es den Doktor doch machen!«, rief Mrs. Baker-Hyde und fing wieder an zu weinen.
»Ja«, sagte auch Mrs. Ayres, trat zu ihm und berührte ihn am Arm. »Es ist besser, wenn Dr. Faraday es jetzt gleich macht.«
Ich bemerkte wohl, dass Mr. Baker-Hyde sich von Mrs. Ayres abwandte und grob ihre Hand abschüttelte, doch ich war zu beschäftigt mit dem kleinen Mädchen, um seine Geste richtig zur Kenntnis zu nehmen. Und noch etwas geschah, was mir in jenem Moment kaum auffiel. Doch es gab wohl, wie ich mir später dachte, den Ton für die Ereignisse vor, die in den nächsten Tagen folgten. Mrs. Baker-Hyde und ich hatten Gillian vorsichtig zur Türschwelle des Saals getragen, wo wir auf Bill Desmond trafen, der meine Arzttasche geholt hatte. Helen Desmond und Mrs. Ayres schauten uns besorgt hinterher, während Mrs. Rossiter und Miss Dabney sich in ihrer Verwirrung daranmachten, die Scherben rund um den Kamin aufzulesen – wobei Miss Dabney sich versehentlich tief in den Finger schnitt und dem blutverschmierten Teppich noch ein paar weitere Flecke hinzufügte. Peter Baker-Hyde folgte mir auf dem Fuße, gleich hinter ihm kam sein Schwager. Offenbar hatte Mr. Morley plötzlich Gyp entdeckt, der die ganze Zeit unter einem Tisch gekauert hatte, denn er ging fluchend zu dem Hund hin und versetzte ihm einen Fußtritt, einen ziemlich festen Tritt, der Gyp aufjaulen ließ. Daraufhin schoss Caroline – vermutlich zum großen Erstaunen Mr. Morleys – auf ihn zu und stieß ihn beiseite.
»Was fällt Ihnen ein!«, schrie sie. Ihre Stimme klang schrill und angespannt, ganz und gar nicht wie sonst.
Er zog sich das Jackett zurecht. »Vielleicht ist es Ihnen ja nicht aufgefallen, aber Ihr verfluchter Köter hat meiner Nichte gerade das halbe Gesicht abgerissen!«
»Aber Sie machen es noch schlimmer«, sagte sie, kniete sich auf den Boden und zog Gyp an sich. »Sie haben ihm furchtbare Angst eingejagt!«
»Ich würde gern noch mehr tun, als ihm bloß Angst einzujagen! Was fällt Ihnen eigentlich ein, das Vieh hier frei rumlaufen zu lassen, wenn Kinder in der Nähe sind? Er gehört an die Kette!«
»Er ist vollkommen harmlos, wenn man ihn nicht provoziert!«, erwiderte Caroline.
Mr. Morley hatte sich schon abgewendet, doch nun wandte er sich noch einmal zurück: »Was zum Teufel soll denn das heißen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt hören Sie doch auf, so zu schreien!«
»Ich soll aufhören zu schreien? Sie haben doch gesehen, was er gemacht hat!«
»Aber er hat vorher noch nie jemanden gebissen! Er ist ein Familienhund!«
»Er ist eine wilde Bestie! Man sollte ihn verdammt noch mal erschießen!«
Das Streitgespräch ging weiter, doch ich nahm es nur am
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