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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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jenes kleine Mädchen, das gestorben war. »Da hätten sie auch gleich Crouch, den Friseur, holen können! Was hat er Ihnen erzählt?«
    »Nicht allzu viel. Es klingt, als ginge es Gillian den Umständen entsprechend einigermaßen gut. Die Eltern wollen offenbar zu einem Spezialisten nach London mit ihr, sobald sie die Reise antreten kann.«
    »Das arme, arme Kind! Ich denke schon den ganzen Tag an sie. Wissen Sie schon, dass ich dort angerufen habe? Dreimal, aber niemand wollte mit mir reden, bloß das Dienstmädchen. Ich habe schon überlegt, ob ich nicht etwas schicken soll. Blumen vielleicht? Irgendein Geschenk? Bei Leuten wie den Baker-Hydes … Nun ja, da kann man doch kaum Geld schicken. Ich weiß noch, wie sich vor vielen Jahren hier ein Junge verletzte – Daniel Hibbit, erinnerst du dich noch, Caroline? Er wurde auf unserem Grundstück von einem Pferd getreten und behielt eine Art Lähmung zurück. Soweit ich weiß, haben wir uns damals um alles gekümmert. Aber in diesem Fall, da weiß man ja gar nicht …« Ihre Stimme erstarb.
    Neben mir rückte Caroline unruhig hin und her. »Mir tut es auch leid um das arme Kind, das können Sie mir glauben«, sagte sie, während sie immer noch an der Zehennaht ihrer Strümpfe zupfte. »Aber ich würde ganz genauso empfinden, wenn sie den Arm in eine Mangel gesteckt oder sich an einem heißen Ofen verbrannt hätte. Es war einfach furchtbares Pech, oder? Mit Geld oder Blumen kann man das auch nicht wiedergutmachen. Nur, was kann man sonst tun?«
    Sie hatte den Kopf gesenkt und das Kinn an die Brust gezogen, wodurch ihre Stimme leise und fern klang. Nach kurzem Zögern sagte ich: »Ich fürchte, die Baker-Hydes erwarten tatsächlich etwas.«
    Noch während ich sprach, redete sie schon weiter. »Aber mit solchen Leuten ist ohnehin kein vernünftiges Gespräch möglich. Wissen Sie, was mir dieser Schwager gestern Abend erzählt hat? Sie reißen nicht bloß nahezu die gesamte Holzvertäfelung auf Standish raus, nein, sie wollen auch noch den ganzen Südflügel des Hauses aufreißen! Sie wollen dort eine Art Kino für ihre Freunde bauen. Bloß die Galerie wollen sie behalten. ›Die billigen Plätze‹, hat er dazu gesagt.«
    »Nun ja«, meinte ihre Mutter vage, »Häuser verändern sich nun mal. Auch dein Vater und ich haben einige Änderungen an diesem Haus vorgenommen, als wir frisch verheiratet waren. Aber ich finde es einen Jammer, dass man die Tapisserien von Standish nicht erhalten konnte. Haben Sie diese Tapisserien je gesehen, Dr. Faraday? Es würde Agnes Randall das Herz brechen!«
    Ich erwiderte nichts, und während sie und Caroline sich einige Minuten lang der Inneneinrichtung von Standish widmeten, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie, ob bewusst oder unbewusst, eine Auseinandersetzung mit dem viel dringenderen Problem vermieden.
    Schließlich sagte ich: »Ach, wissen Sie, so wie es Gillian jetzt geht, haben die Baker-Hydes bestimmt anderes im Sinn, als sich um den Umbau von Standish zu kümmern.«
    Mrs. Ayres sah mich gequält an. »Ach, wenn sie bloß dieses Kind nicht hierher mitgebracht hätten!«, sagte sie. »Warum um alles in der Welt haben sie das Kind bloß mitgebracht? Sie haben doch bestimmt ein Kindermädchen oder eine Gouvernante für das Mädchen. Genug Geld haben sie doch offenbar.«
    »Wahrscheinlich glauben sie, dass sie durch eine Gouvernante irgendeinen Komplex bekommen könnte«, sagte Caroline und rückte auf ihrem Platz hin und her. Und gleich darauf murmelte sie vor sich hin: » Jetzt bekommt sie bestimmt einen Komplex!«
    Ich blickte sie schockiert an, und auch ihre Mutter stieß ein entsetztes »Caroline!« aus.
    Um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schien Caroline über ihre Äußerung genauso erschrocken zu sein wie wir. Ihr Blick wirkte gequält, während der Mund in einem nervösen Lächeln festgefroren war; dann wandte sie sich ab. Sie trug keinerlei Make-up, wie mir nun auffiel. Vielmehr sahen ihre Wangen trocken aus, und ihr Mund schien leicht geschwollen, als hätte sie sich das Gesicht allzu heftig mit einem Waschlappen abgerubbelt.
    Ich sah, wie Roderick zu ihr hinüberblickte, während er an seiner Zigarette zog. Sein Gesicht war von der Hitze des Feuers ungleichmäßig gerötet; das hellere, straff gespannte Narbengewebe an Wangen und Kinn leuchtete wie diabolische Fingerabdrücke. Aber verblüffenderweise sagte er immer noch nichts. Keiner von ihnen, dachte ich, hat irgendeine Vorstellung davon, wie

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