Der Besucher - Roman
Eltern besser auf ihr Kind aufgepasst hätten – oder es am besten gar nicht erst mitgebracht hätten …«
Und so waren wir wieder genau da, wo wir angefangen hatten, abgesehen davon, dass nun Caroline, ihre Mutter und ich das schreckliche Ereignis von Anfang bis Ende durchgingen und jeder seine leicht abweichende Perspektive zum Besten gab. Während wir sprachen, blickte ich mehrmals zu Rod hinüber. Er zündete sich noch eine Zigarette an – wobei er sich ziemlich ungeschickt anstellte und Tabak in seinen Schoß krümelte –, und ich bemerkte, dass er ruhelos auf seinem Sessel hin und her rutschte, als fühle er sich durch unsere Stimmen bedrängt. Ich hatte allerdings keine Ahnung, wie unwohl ihm tatsächlich zumute war, bis er sich abrupt erhob.
»Mein Gott!«, sagte er. »Ich kann es nicht länger ertragen. Ich habe mir das heute schon viel zu oft anhören müssen. Entschuldige mich, Mutter. Herr Doktor. Ich gehe auf mein Zimmer. Tut mir leid, ich … Tut mir leid.«
Er klang dermaßen angespannt und bewegte sich so ungelenk, dass ich schon aufstehen wollte, um ihm zu helfen.
»Alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut«, erwiderte er hastig und streckte seine Hand vor, als wolle er mich wegstoßen. »Nein, machen Sie sich keine Mühe. Mir geht es wirklich gut.« Er setzte ein wenig überzeugendes Lächeln auf. »Ich schäme mich bloß immer noch ein bisschen wegen gestern Abend, sonst nichts. Ich … Ich werde Betty bitten, dass sie mir einen heißen Kakao bringt. Wenn ich erst mal eine Nacht richtig geschlafen habe, dann wird es mir schon besser gehen.«
Während er sprach, stand seine Schwester auf und hängte sich bei ihm ein.
»Du brauchst mich doch im Augenblick nicht mehr, nicht wahr, Mutter?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Dann sage ich jetzt auch gute Nacht.« Sie blickte mich verlegen an. »Danke, dass Sie zu uns rausgekommen sind, Dr. Faraday. Das war sehr aufmerksam von Ihnen.«
Nun hatte ich mich endlich ganz erhoben. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen keine besseren Nachrichten bringen konnte. Aber versuchen Sie bitte, sich nicht zu viele Sorgen zu machen.«
»Ach, ich mache mir keine Sorgen«, sagte sie mit einem Lächeln, das ebenso tapfer war wie das ihres Bruders. »Sollen diese Leute doch sagen, was sie wollen. Sie werden Gyp nichts tun. Das werde ich nicht zulassen.«
Roderick und sie verließen den Salon, und der Hund trottete treu hinter ihnen her; zumindest für den Moment schien ihn der selbstbewusste Klang ihrer Stimme wieder beruhigt zu haben.
Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Mrs. Ayres zu. Jetzt, wo ihre Kinder nicht mehr da waren, wirkte sie plötzlich erschreckend müde. Ich war vorher noch nie mit ihr allein gewesen und fragte mich, ob ich nicht besser auch gehen sollte. Schließlich war ich an diesem Morgen früh aufgestanden und inzwischen selbst erschöpft.
Doch sie bat mich mit müder Stimme: »Bitte setzen Sie sich doch hier auf Rodericks Platz, Dr. Faraday, dann kann ich Sie besser anschauen.«
Also setzte ich mich zu ihr ans Feuer.
»Das alles muss ein schrecklicher Schock für Sie gewesen sein«, sagte ich.
»Ja, das war es«, erwiderte sie augenblicklich. »Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und an das arme Kind denken müssen. Dass so etwas Grässliches passieren musste – und auch noch in unserem Haus! Und dann …«
Sie drehte nervös die Ringe an ihren Fingern, so dass ich am liebsten meine Hand beruhigend auf ihre gelegt hätte. Schließlich sagte sie, noch angespannter als bisher: »Offen gestanden mache ich mir auch Sorgen um Roderick.«
Ich blickte zur Tür. »Ja. Er schien heute wirklich nicht ganz er selbst zu sein. Hat ihn der Vorfall denn so sehr aufgeregt?«
»Haben Sie es denn nicht bemerkt? Gestern Abend?«
»Gestern Abend?« Tatsächlich hatte ich es über der ganzen Aufregung vergessen, doch nun fiel es mir wieder ein. »Sie haben Betty zu ihm geschickt …«
»Das arme Mädchen. Er hat ihr einen ziemlichen Schreck eingejagt. Sie kam mich holen, und ich habe ihn in einem … ach … in einem ganz merkwürdigen Zustand vorgefunden!«
»Wie meinen Sie das? War er krank?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie widerstrebend. »Er hat gesagt, er hätte Kopfschmerzen. Doch er sah schrecklich aus. Er war nur halb angezogen, schwitzte und zitterte dabei wie Espenlaub.«
Ich blickte sie eindringlich an. »Hat er … Hat er vielleicht getrunken?«
Eine andere Erklärung fiel mir im
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