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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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bloß gemacht, weil ich dachte, ich hätt ihn die Treppe runterkommen gehört. Sie wissen doch, dass er immer so geschnauft hat, wie ein alter Mann? Ich hätt schwören können, dass ich sein Schnaufen gehört hab!«
    Was die arme Caroline anging, so weiß ich nicht, wie oft sie irgendein Geräusch fälschlich für das Kratzen von Gyps Pfoten hielt oder sich nach einem Schatten umdrehte, in dem sie ihren Hund vermutete. In einer der Pflanzungen des Parks gab es eine Reihe Marmorgrabsteine, einen eigenen kleinen Tierfriedhof, und dort ließ sie Barrett ein Grab für den Hund ausheben. Bei einem traurigen Rundgang durch das Haus sammelte sie alle Wasserschüsseln und Decken ein, die für den Hund in den verschiedenen Zimmern bereitgestanden hatten, und räumte sie fort. Doch dabei schien sie ihre Trauer und Wut in sich zu verschließen, mit einer Gründlichkeit, die mich verunsicherte. Bei meinem ersten Besuch auf Hundreds Hall nach jenem unglückseligen Morgen, an dem ich Gyp eingeschläfert hatte, suchte ich das Gespräch mit ihr, denn ich wollte nicht, dass irgendwelche unguten Gefühle zwischen uns standen. Doch als ich mich erkundigte, wie es ihr ging, erwiderte sie bloß mit ausdrucksloser Stimme: »Mir geht es gut. Nun ist ja alles vorbei, oder? Es tut mir leid, dass ich neulich so zornig Ihnen gegenüber war. Sie konnten ja nichts dafür. Nun ist es vorbei. Hier, ich will Ihnen etwas zeigen, was ich gestern in einem der oberen Zimmer gefunden habe …« Und sie holte irgendeinen alten Plunder hervor, den sie in einer Schublade entdeckt hatte, und verlor kein Wort mehr über Gyp.
    Ich fand, ich kannte sie nicht gut genug, um sie zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema zu zwingen. Doch ich sprach mit ihrer Mutter über sie, und diese meinte, dass Caroline »sich schon auf ihre eigene Weise wieder fangen« würde.
    »Caroline war nie besonders gut darin, ihre Gefühle zu zeigen«, sagte sie mit einem Seufzer. »Aber sie ist unheimlich vernünftig und patent. Deshalb habe ich sie auch hierher zurückgeholt, als ihr Bruder mit der Kriegsverletzung heimgekehrt war. Sie hätte es mit jeder Krankenschwester aufnehmen können … Haben Sie übrigens schon das Neueste gehört? Mrs. Rossiter kam heute Morgen extra hierher und hat es uns erzählt: Offenbar ziehen die Baker-Hydes wieder aus. Sie kehren mit dem kleinen Mädchen zurück nach London, und die Dienstboten kommen nächste Woche nach. Nun wird das arme Standish wieder dichtgemacht und zum Verkauf angeboten. Aber ich denke wirklich, es ist besser so. Nicht auszudenken, wenn Caroline, Roderick oder ich ständig dieser Familie wiederbegegnen müssten, sei es in Lidcote oder Leamington.«
    Ich war ebenfalls erleichtert über diese Neuigkeit. Die Aussicht, den Baker-Hydes regelmäßig über den Weg zu laufen, hatte mir ebensowenig gefallen wie Mrs. Ayres. Auch war ich froh, dass die Lokalzeitungen endlich das Interesse an dem Fall verloren hatten. Natürlich hat man wenig Einfluss auf den örtlichen Klatsch, und gelegentlich sprachen mich Patienten oder Kollegen auf den Vorfall an, weil sie wussten, dass ich irgendwie damit zu tun hatte, doch ich versuchte jedes Mal, das Thema zu wechseln, und bald verebbte das Gerede.
    Doch ich machte mir immer noch Gedanken um Caroline. Wenn ich mit dem Auto durch den Park fuhr, sah ich sie gelegentlich von weitem, genau wie früher, doch ohne Gyp an ihrer Seite wirkte sie furchtbar verlassen. Wenn ich anhielt, schien sie auch durchaus bereit, sich zu unterhalten, beinahe so wie vorher. Sie wirkte genauso robust und gesund wie immer. Nur ihr Gesicht, so dachte ich, verriet das Elend der vergangenen Wochen, denn aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, wirkte es noch flacher und unscheinbarer als früher, so als seien zusammen mit ihrem Hund auch ihr Optimismus und ihre Jugend verschwunden.
     
    »Spricht Caroline eigentlich mit Ihnen darüber, wie sie sich fühlt?«, fragte ich ihren Bruder an einem Tag im November, während ich sein Bein behandelte.
    Er schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn: »Sie will es anscheinend nicht.«
    »Können Sie nicht dafür sorgen, dass sie ein bisschen aus sich herauskommt? Sie zum Reden bringen?«
    Er runzelte die Stirn noch mehr. »Wahrscheinlich könnte ich es mal versuchen. Aber irgendwie habe ich nie die Zeit dazu.«
    »Keine Zeit für Ihre Schwester?«, fragte ich leichthin.
    Er antwortete nicht, und ich weiß noch, dass ich mit Sorge betrachtete, wie sein Gesicht sich weiter

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