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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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zu mir, während ich aß, ohne jedoch selbst etwas zu sich zu nehmen. Sie so in der Rolle eines Dienstmädchens zu sehen, trug nur noch mehr zu meinem Unbehagen bei. Als ich mit dem Frühstück fertig war, hielt ich mich nicht länger auf, nahm meine Tasche und ließ mich von ihr in die Eingangshalle und die Treppen hinauf in den ersten Stock führen.
    Vor Carolines Zimmertür verließ sie mich. Die Tür stand einen Spalt offen, doch ich klopfte trotzdem an, und als ich keine Antwort hörte, schob ich die Tür vorsichtig auf und trat ein. Ich fand ein geräumiges, wohnliches Zimmer mit hellen Holzwänden und einem schmalen Himmelbett vor; doch alles war, wie ich bemerkte, vom Alter verblichen: die Bettvorhänge verblasst, die Teppiche abgetreten, die ehemals weiß gestrichenen Dielen streifig ergraut. Es gab zwei Schiebefenster, und vor dem einen saß Caroline auf einer Art gepolsterter Ottomane, mit Gyp an ihrer Seite. Er hatte den Kopf auf ihren Schoß gelegt, hob aber die Schnauze, als er mich sah, zog die Lefzen hoch und klopfte mit dem Schwanz. Caroline hatte das Gesicht zum Fenster gewandt und sprach erst, als ich bei ihr stand.
    »Sie sind wohl so schnell gekommen, wie Sie konnten.«
    »Ich komme direkt von einem Patienten«, erwiderte ich. »Und ist es nicht besser, es jetzt zu erledigen, Caroline, als noch länger zu warten und damit das Risiko einzugehen, dass die Polizei selbst jemanden schickt? Sie wollen doch sicher nicht, dass ein Fremder es tut.«
    Endlich wandte sie mir das Gesicht zu. Sie sah schrecklich aus, bleich, das Haar ungekämmt und die Augen rot und geschwollen vom Weinen oder nächtlichen Wachliegen. Sie sagte: »Warum reden bloß alle so darüber, als ob es irgendetwas ganz Normales, Vernünftiges ist, das erledigt werden muss?«
    »Kommen Sie, Caroline. Sie wissen doch, dass kein Weg daran vorbeiführt.«
    »Nur weil alle sagen, dass es geschehen muss. Es ist wie … wie in den Krieg zu ziehen. Warum sollte ich es tun? Es ist nicht mein Krieg.«
    »Caroline, dieses kleine Mädchen …«
    »Wir hätten vor Gericht gehen können, wissen Sie, und hätten den Prozess vielleicht sogar gewonnen. Mr. Hepton hat das auch gesagt. Aber Mutter wollte es ihn gar nicht erst versuchen lassen!«
    »Aber eine Gerichtsverhandlung! Bedenken Sie doch die Kosten.«
    »Ich hätte das Geld schon irgendwie aufgetrieben.«
    »Dann denken Sie an die Aufmerksamkeit, die Sie auf sich gelenkt hätten. Denken Sie daran, wie das Ganze nach außen gewirkt hätte! Wenn Sie versucht hätten, sich zu verteidigen, während dieses Kind so schwer verletzt ist! Es wäre nicht anständig gewesen.«
    Sie machte eine ungeduldige Geste. »Wen kümmert schon die Aufmerksamkeit? Bloß Mutter kümmert das. Und sie hat doch nur Angst, dass die Leute sehen könnten, wie verarmt wir sind. Und was die Anständigkeit anbelangt – das interessiert doch heute auch niemanden mehr.«
    »Ihre Familie hat schon zu viel durchgemacht. Ihr Bruder …«
    »Ach ja«, sagte sie. »Mein Bruder. Lasst uns doch mal an ihn denken. Als ob wir je etwas anderes getan hätten. Er wenigstens hätte Mutter in dieser Sache Paroli bieten können. Stattdessen hat er nichts getan, gar nichts!«
    Ich hatte sie Roderick noch nie zuvor kritisieren hören, außer im Scherz, und war verwundert über ihre Heftigkeit. Doch gleichzeitig wurden ihre Augen immer röter und ihre Stimme schwächer, und ich glaube, sie sah ein, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie wandte sich wieder ab und schaute aus dem Fenster. Ich betrachtete sie schweigend und sagte dann behutsam: »Sie müssen jetzt tapfer sein, Caroline. Es tut mir sehr leid … Sollen wir es jetzt hinter uns bringen?«
    »Gott«, sagte sie und schloss die Augen.
    »Caroline, er ist alt.«
    »Macht es das denn besser?«
    »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass er nicht leiden wird.«
    Einen Moment lang blieb sie starr sitzen, dann ließ sie die Schultern sinken, stieß den Atem aus, und alle Verbitterung schien aus ihr zu weichen. Resigniert sagte sie: »Dann nehmen Sie ihn doch. Alles andere ist ja auch schon verschwunden, warum also nicht er? Ich bin es leid, mich zu wehren.«
    Ihr Tonfall klang so trostlos, dass ich hinter ihrer Starrköpfigkeit mit einem Mal die anderen Verluste und Schmerzen erahnen konnte, die sie wahrscheinlich erlitten hatte, und mir wurde klar, dass ich sie falsch eingeschätzt hatte. Während sie sprach, hatte sie die Hand auf den Kopf des Hundes gelegt. Gyp, wohl weil er verstand, dass sie

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