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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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hat die Tür offen stehen lassen, so dass ich – Rumms – genau gegen die Kante gerannt bin.«
    »Er war bewusstlos!«, sagte Caroline. »Wir haben es allein Betty zu verdanken, dass er nicht … was weiß ich … an seiner Zunge erstickt ist oder so etwas.«
    »Sei nicht albern!«, meinte ihr Bruder. »Ich war nicht bewusstlos!«
    »Aber ja! Er hat regungslos auf dem Boden gelegen. Und vorher hat er so laut aufgeschrien, dass Betty im Untergeschoss aufgewacht ist. Das arme Mädchen! Wahrscheinlich hat sie gedacht, dass Einbrecher im Haus wären. Sie hat sich raufgeschlichen und hat ihn da liegen sehen. Zum Glück war sie so vernünftig, mich gleich zu wecken. Er war immer noch nicht bei Bewusstsein, als ich runterkam.«
    Rod knurrte: »Hören Sie nicht auf sie, Herr Doktor. Sie übertreibt maßlos.«
    »Tue ich nicht, und das weißt du auch!«, sagte Caroline. »Wir mussten ihm Wasser ins Gesicht schütten, damit er wieder zu sich kommt, und als er dann bei Bewusstsein war, hat er recht wenig Dankbarkeit gezeigt! Er hat uns mit ziemlich deutlichen Worten zu verstehen gegeben, dass wir ihn in Ruhe lassen sollten!«
    »Schon gut«, sagte ihr Bruder. »Nun haben wir wohl zu Genüge bewiesen, dass ich ein Vollidiot bin. Aber das habe ich ja selbst auch schon gesagt. Können wir es jetzt bitte dabei belassen?«
    Sein Tonfall war scharf. Caroline wirkte einen Moment lang irritiert, dann gelang es ihr jedoch, das Thema zu wechseln. Rod beteiligte sich allerdings nicht an dem Gespräch, sondern saß missmutig und stumm daneben, während Caroline und ich redeten. Und als ich mein Gerät vorbereiten wollte, verweigerte er zum ersten Mal rundweg die Behandlung und sagte wieder, er habe »genug davon« und die ganze Sache würde sowieso »nichts nützen«.
    Seine Schwester starrte ihn entsetzt an. »Aber Rod, du weißt, dass das nicht stimmt!«
    »Es ist schließlich mein Bein, oder?«, erwiderte er gereizt.
    »Aber schließlich hat Dr. Faraday sich schon so viel Mühe gemacht …«
    »Wenn Dr. Faraday sich so für Leute einsetzt, die er kaum kennt, dann ist das sein Problem!«, sagte Rod. »Ich jedenfalls habe genug davon, mich dauernd zwicken und herumzerren zu lassen. Oder sind meine Beine etwa Gemeinschaftseigentum? Gehören sie auch zum Anwesen? Man braucht sie bloß ein bisschen zusammenzuflicken, dann kann man sie auch noch eine Weile benutzen, egal ob ihr sie langsam zu Stümpfen schleift! Denkt ihr das?«
    »Rod, du bist ungerecht!«
    »Schon gut«, sagte ich ruhig. »Rod muss die Behandlung nicht machen, wenn er es nicht will. Es ist ja nicht so, als würde er dafür bezahlen!«
    »Aber«, meinte Caroline, als habe sie mich gar nicht gehört, »was ist mit Ihrer Veröffentlichung …«
    »Die ist schon so gut wie fertig. Außerdem haben wir die bestmögliche Wirkung auch schon erzielt, wie Rod wahrscheinlich weiß. Jetzt halte ich bloß den Muskel beweglich.«
    Rod hatte sich abgewandt und hegte offenbar nicht mehr die Absicht, mit uns zu reden. Schließlich überließen wir ihn sich selbst und machten uns auf den Weg in den kleinen Salon, wo wir mit Mrs. Ayres in gedrückter Stimmung den Tee einnahmen. Ehe ich nach Hause fuhr, suchte ich noch Betty im Untergeschoss auf, und sie bestätigte, was Caroline mir über die vorangegangene Nacht erzählt hatte. Sie habe fest geschlafen, sagte sie, und sei dann von einem lauten Schrei wach geworden. In ihrer Verwirrung habe sie zunächst gedacht, jemand aus der Familie habe nach ihr gerufen, und sei dann schläfrig nach oben gegangen. Rods Tür habe offen gestanden, er selbst habe mit blutigem Gesicht auf dem Boden gelegen, ganz bleich und bewegungslos, so dass sie ihn einen Moment lang schon für tot gehalten und »beinahe geschrien« habe. Dann habe sie sich jedoch zusammengenommen und Caroline geholt, und gemeinsam hätten sie ihn wieder zu Bewusstsein gebracht. Er sei aufgewacht und hätte »geflucht« und »ganz komische Sachen« gesagt.
    »Was für komische Sachen denn?«, erkundigte ich mich.
    Sie verzog das Gesicht und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. »So komische Sachen eben. Seltsames Zeug. Wie wenn der Zahnarzt einem Lachgas gibt.«
    Mehr konnte sie mir auch nicht sagen; also ließ ich es dabei bewenden.
    Einige Tage später – das blaue Auge war inzwischen nicht mehr blau, sondern »senfgelb«, wie Caroline sagte, doch noch immer nicht ganz verschwunden – erlitt Rod eine weitere kleine Verletzung. Wieder war er offenbar nachts wach geworden und im

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