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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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Zimmer »umhergetapst«. Diesmal war er in einen Schemel gerannt, der auf geheimnisvolle Weise seinen üblichen Platz verlassen hatte, nur um sich ihm in den Weg zu stellen. Er war gestolpert, hingestürzt und hatte sich dabei das Handgelenk verstaucht. Er versuchte den Vorfall mir gegenüber herunterzuspielen, und als ich ihm den Arm verband, tat er gerade so, als würde er sich nur mir zu Gefallen darauf einlassen. Doch so, wie sein Arm aussah und wie er das Gesicht verzog, als ich ihn verband, war mir klar, dass er ihn sich ziemlich schlimm verstaucht hatte.
    Später sprach ich mit seiner Mutter darüber. Sie wirkte gleich besorgt und begann – wie in letzter Zeit so oft – nervös an ihren altmodischen Ringen zu drehen.
    »Was, glauben Sie, ist da wirklich los?«, fragte sie mich. »Er will mir ja nichts erzählen. Wieder und wieder habe ich es versucht. Ganz offensichtlich schläft er nicht richtig. Doch andererseits glaube ich nicht, dass irgendeiner von uns im Moment besonders gut schläft … Aber dieses nächtliche Herumlaufen! Das kann doch nicht gesund sein, oder?«
    »Sie glauben also wirklich, dass er gestolpert ist?«
    »Was denn sonst? Wenn er gelegen hat, ist sein Bein immer besonders steif.«
    »Das stimmt. Aber der Schemel …«
    »Na ja, sein Zimmer ist doch immer in einem furchtbaren Zustand. Das war schon immer so.«
    »Aber räumt Betty denn dort nicht auf?«
    Sie hörte meinen besorgten Unterton und blickte mich beunruhigt an. »Sie glauben doch nicht, dass es etwas Ernstes ist? Das irgendetwas mit ihm nicht stimmt? Er hat doch nicht wieder diese schlimmen Kopfschmerzen gehabt?«
    Doch daran hatte ich auch schon gedacht. Ich hatte mich nach seinen Kopfschmerzen erkundigt, während ich ihm die Hand verbunden hatte, und er hatte erwidert, dass er abgesehen von den beiden kleinen Verletzungen keinerlei körperliche Beschwerden habe. Er schien die Wahrheit zu sagen, und obwohl er müde aussah, konnte ich keinerlei Anzeichen für eine echte Krankheit an ihm feststellen, weder an seinen Augen noch an seiner Gesichtsfarbe oder seinem Verhalten. Da war nur dieses schwer fassbare Etwas , so schwach wie ein Duft oder Schatten, das mich nach wie vor verwirrte. Seine Mutter wirkte so besorgt, dass ich sie nicht weiter belasten wollte. Ich erinnerte mich wieder, wie sie an dem Abend nach der Gesellschaft geweint hatte. Daher sagte ich ihr, dass ich mir wahrscheinlich bloß unnötige Sorgen gemacht hätte, und spielte, genau wie Rod, die Angelegenheit herunter.
    Doch die Sache beschäftigte mich immerhin so, dass ich mit irgendjemandem darüber sprechen wollte. Also verabschiedete ich mich von Mrs. Ayres mit dem Versprechen, dass ich im Laufe der Woche noch mal vorbeischauen würde, und machte mich auf die Suche nach Caroline, um unter vier Augen mit ihr zu reden.
    Ich fand sie in der Bibliothek. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden, ein Tablett mit ledergebundenen Büchern vor sich, und rieb die Einbände mit Lanolin ein. Sie hatte gerade genügend schwaches Licht, um zu arbeiten. Durch die Feuchtigkeit der letzten Wochen hatten sich die Fensterläden verzogen, so dass sie nur einen hatte öffnen können, und das auch nur teilweise. Der Großteil der Regale war immer noch mit weißen Laken verhängt, ich fühlte mich unangenehm an Leichentücher erinnert. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Kamin anzuheizen, und im Raum war es kalt und ungemütlich.
    Sie schien freudig überrascht, dass ich an einem Werktag gekommen war.
    »Sehen Sie sich mal diese wunderbaren alten Ausgaben an«, sagte sie und zeigte mir eine Reihe kleiner rotbrauner Bücher, deren Einband immer noch vom Lanolin feucht glänzte, wie Kastanien, die frisch vom Baum gefallen waren. Ich zog mir einen Schemel heran und setzte mich neben sie; sie schlug eines der Bücher auf und blätterte darin.
    »Um ehrlich zu sein, bin ich noch nicht allzu weit gekommen«, sagte sie. »Es ist immer viel verlockender zu lesen als zu arbeiten. Gerade habe ich etwas Lustiges entdeckt, ein Gedicht von Herrick. Hier ist es.« Mit einem Knarren schlug sie den Deckel auf. »Hören Sie mal zu und sagen mir dann, woran Sie das erinnert.« Und sie las mit ihrer tiefen, angenehmen Stimme:
     
    Ziegenzungen solln dir munden
    wie auch der Ziegen Milch.
    Dein Brot sei Haselmark
    mit Schlüsselblumenbutter.
    Dein Festtagstisch, die Hügel,
    sind reich gedeckt mit Blüten,
    an deiner Seite singt das Kehlchen
    dir ein fröhlich Lied.
     
    Dann hob sie den Kopf.

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