Der Besucher - Roman
das macht, dass so schlimme Sachen passieren!«
Ich starrte sie einen Moment an und rieb mir dann ungläubig die Stirn. »Ach, Betty!«
»Es stimmt aber! Ich hab’s gespürt!«
Sie blickte von mir zu Mrs. Bazeley. Ihre grauen Augen waren weit aufgerissen, und ein leichtes Zittern durchfuhr ihren Körper. Doch ich hatte, wie schon öfter bei ihr, das Gefühl, dass sie im tiefsten Innern die Aufregung genoss, genau wie die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Mit deutlich weniger Geduld sagte ich: »Schon gut, Betty. Wir sind alle müde, und es tut uns allen leid.«
»Das is keine Müdigkeit.«
»Nun ist es aber gut!«, meinte ich streng. »Dann ist es bloßer Unfug, und das weißt du auch! Das Haus ist groß und ein bisschen einsam gelegen, aber ich dachte, dass du dich inzwischen daran gewöhnt hättest!«
»Ich hab mich ja dran gewöhnt. Das is es nicht!«
»Es ist gar nichts! Hier gibt es nichts Böses und auch nichts Gruseliges! Was mit Gyp und dem armen Mädchen geschehen ist, war ein unglückseliger Unfall, sonst nichts.«
»Es war kein Unfall! Das Böse war’s, das hat Gyp ins Ohr geflüstert – oder ihn gezwickt!«
»Hast du denn ein Flüstern gehört?«
»Nein«, antwortete sie widerstrebend.
»Nein. Und ich auch nicht. Und auch sonst niemand, keiner von den Leuten, die eingeladen waren. Mrs. Bazeley, haben Sie irgendwelche Anzeichen für dieses ›Böse‹ gesehen, von dem Betty spricht?«
Mrs. Bazeley schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich nich, Herr Doktor. Ich hab nie nix Ungewöhnliches gesehen.«
»Und wie lange arbeiten Sie schon in diesem Haus?«
»Na, zehn Jahre fast komm ich schon her.«
»Da siehst du es«, sagte ich zu Betty. »Beruhigt dich das nicht?«
»Nein«, erwiderte sie. »Bloß weil sie’s nich gesehen hat, heißt das doch nich, dass es nich da is. Es könnt … Es könnt auch was Neues sein.«
Ich sagte: »Ach, du meine Güte! Komm, jetzt sei ein braves Mädchen und trockne dir die Augen! Und ich hoffe«, fügte ich noch hinzu, »dass du nichts dergleichen gegenüber Mrs. Ayres oder Miss Caroline erwähnst. Denn das ist so ungefähr das Letzte, was die beiden im Moment gebrauchen können. Sie sind sehr gut zu dir gewesen, weißt du noch? Denk nur mal dran, wie sie mich geholt haben, als du dich im Juli so unwohl gefühlt hast.«
Ich blickte sie eindringlich an. Sie verstand meine Anspielung und errötete. Doch ihre Miene blieb trotz der Schamröte stur. Sie flüsterte: »Da is was Böses! Es is da!«
Dann vergrub sie das Gesicht wieder an Mrs. Bazeleys Schulter und weinte genauso bitterlich wie vorher.
5
E s war kaum verwunderlich, dass das Leben auf Hundreds Hall in den folgenden Wochen sehr verändert und traurig erschien. Zum einen musste man sich dort erst einmal daran gewöhnen, dass Gyp nicht mehr da war. Zu dieser Jahreszeit waren die Tage ohnehin schon trübe, doch ohne den Hund, der freundlich von Zimmer zu Zimmer trottete, erschien das Haus noch düsterer und lebloser. Da ich nach wie vor einmal in der Woche nach Hundreds fuhr, um Rods Bein zu behandeln, betrat ich inzwischen der Einfachheit halber immer selbst das Haus, ohne dass mir jemand die Tür aufmachte, und manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich an der geöffneten Tür auf das Klackern und Tapsen der Pfoten lauschte. Oder aber ich wandte mich unwillkürlich zu einem Schatten um, in der Annahme, dass es sich dabei um Gyp handelte, und erst dann wurde mir jedes Mal wieder schmerzhaft bewusst, was geschehen war.
Als ich das Mrs. Ayres gegenüber erwähnte, nickte sie zustimmend und erzählte, dass sie an einem verregneten Nachmittag in der Eingangshalle gestanden und gedacht hätte, sie könne den Hund im Obergeschoss herumtapsen hören. Sie hatte das Geräusch so deutlich gehört, dass sie fast schon ängstlich hochgegangen war, um nachzuschauen. Dabei musste sie jedoch feststellen, dass es sich bei dem Geräusch keineswegs um das Kratzen von Krallen auf den Dielen handelte, sondern um das stete Tröpfeln aus einer kaputten Regenrinne. Ähnlich erging es Mrs. Bazeley. Einmal hatte sie einen Napf mit Brot und Sauce vorbereitet und an die Küchentür gestellt, genau wie sie es früher immer für Gyp getan hatte. Sie hatte den Napf über eine halbe Stunde dort stehen lassen und sich die ganze Zeit gefragt, wo der Hund blieb – und dann fast geweint, als ihr endlich wieder einfiel, dass er ja gar nicht mehr da war. »Und das Komische war«, erzählte sie mir, »ich hab’s
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