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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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»Das hätte doch gut in einer Radioansprache des Ernährungsministeriums kommen können, finden Sie nicht auch? Alles kommt vor, bloß das Bezugsscheinheft nicht. Ich frage mich, wie wohl das Haselmark schmecken mag.«
    »So ähnlich wie Erdnussbutter vielleicht«, erwiderte ich.
    »Ja, wahrscheinlich, bloß noch schlimmer.«
    Wir lächelten einander an. Sie legte den Herrick beiseite, nahm wieder das Buch, an dem sie gearbeitet hatte, als ich kam, und rieb es mit festen, gleichmäßigen Strichen ein. Doch als ich sagte, dass ich gern mit ihr über Roderick sprechen würde, wurden ihre Bewegungen langsamer, und ihr Lächeln versiegte.
    Sie sagte: »Ich habe mich schon gefragt, wie das Ganze auf Sie gewirkt haben muss. Ich wollte schon selbst mit Ihnen reden. Aber nach der Angelegenheit neulich …«
    Das war das erste und einzige Mal, dass sie die Sache mit Gyp erwähnte, und während sie sprach, neigte sie den Kopf, so dass ich ihre gesenkten Lider sah. Sie waren schwer und feucht und wirkten über den trockenen Wangen seltsam nackt.
    Sie fuhr fort: »Er sagt immer, es ginge ihm gut, aber das stimmt nicht. Mutter weiß es auch. Diese Geschichte mit der Tür zum Beispiel. Wann hätte Rod je nachts seine Zimmertür offen gelassen? Und er hat wirklich beinahe phantasiert, als er zu sich kam, egal was er sagt. Ich glaube, er hat Alpträume. Er hört Geräusche, wo gar keine sind.« Sie griff nach der Lanolindose und tupfte mit dem Finger hinein. »Vermutlich hat er Ihnen auch nicht erzählt, dass er letzte Woche nachts in mein Zimmer gekommen ist?«
    »In Ihr Zimmer?« Das war mir in der Tat neu.
    Sie nickte und blickte mich an, während sie weiterarbeitete. »Er hat mich geweckt. Ich weiß nicht, wie spät es war, lange vor Morgengrauen jedenfalls. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Er kam ins Zimmer gestürmt und rief, ob ich in Gottes Namen endlich aufhören könne, Möbel herumzurücken; es würde ihn wahnsinnig machen. Dann sah er mich in meinem Bett liegen, und ich schwöre, er ist ganz grün im Gesicht geworden – oder eher senfgelb wie sein Auge! Sein Zimmer liegt fast genau unter meinem, wissen Sie, und er sagte, er hätte schon seit einer Stunde dort gelegen und gehört, wie ich Sachen über den Boden geschleift hätte. Er dachte, ich hätte die Möbel umgestellt. Er hatte natürlich geträumt. Im Haus war es so still wie in einer Kirche – genau wie immer. Aber sein Traum schien ihm wirklicher vorzukommen als ich, das war das Furchtbare. Es dauerte ewig, bis er sich wieder beruhigt hatte. Schließlich habe ich ihm gesagt, er solle sich mit in mein Bett legen. Ich bin wieder eingeschlafen, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt geschlafen hat. Ich glaube, er hat den Rest der Nacht wach gelegen – hellwach, so als ob er Wache halten oder auf irgendetwas warten würde.«
    Ihr Bericht hatte mich nachdenklich gestimmt. »Er ist doch nicht ohnmächtig geworden, oder?«
    »Ohnmächtig geworden?«
    »Hat er vielleicht eine Art … Anfall gehabt?«
    »Einen epileptischen Anfall, meinen Sie? Nein, nein. So war es überhaupt nicht. Als ich klein war, kannte ich mal ein Mädchen, das epileptische Anfälle hatte. Das war immer ganz furchtbar. Ich glaube nicht, dass ich so etwas übersehen würde.«
    »Nicht alle epileptischen Anfälle sind gleich«, gab ich zu bedenken. »Es wäre immerhin eine Erklärung. Seine Verletzungen, seine Verwirrung, sein komisches Benehmen …«
    Sie schüttelte den Kopf und blickte mich skeptisch an. »Ich weiß nicht. Aber ich glaube nicht, dass es das war. Und wieso sollte er auf einmal epileptische Anfälle bekommen? Er hat nie welche gehabt.«
    »Vielleicht hat er das ja. Hätte er es Ihnen denn erzählt? Die meisten Leute schämen sich, wenn es um Epilepsie geht.«
    Sie runzelte nachdenklich die Stirn, dann schüttelte sie noch einmal den Kopf. »Nein, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass das der Grund ist.«
    Sie wischte sich das Lanolin von den Fingern, schraubte die Dose zu und stand auf. Durch das schmale, hohe Fenster konnte man den sich rasch verdunkelnden Himmel sehen, und die Bibliothek erschien noch kälter und düsterer als sonst. »Mein Gott, hier drinnen ist es ja wie in einem Eishaus«, sagte sie und blies sich in die Hände. »Würden Sie so nett sein und mir hiermit helfen?«
    Sie meinte das Tablett mit den Büchern, die sie gerade eingerieben hatte. Ich half ihr, das Tablett anzuheben, und gemeinsam stellten wir es auf einen Tisch. Sie klopfte sich den Rock

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