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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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als er sich das blaue Auge geholt hat, und der Schemel, über den er gestolpert ist?«
    »Was, darüber ist er gestolpert?« Ich hatte mir irgendein zierliches Fußbänkchen vorgestellt. »Aber dieser Schemel wiegt doch bestimmt eine Tonne! Wie kann der denn so einfach quer durch den Raum gewandert sein?«
    »Das würde ich auch gern wissen. Und warum hat der Schemel diesen komischen Fleck? Gerade so, als ob er irgendwie … gebrandmarkt wäre. Das ist ja richtig gruselig!«
    »Haben Sie denn Rod die anderen Flecke auch gezeigt?«
    »Den auf der Tür und den an der Decke habe ich ihm gezeigt, aber diesen hier nicht. Seine Reaktion auf die beiden anderen war schon seltsam genug.«
    »Seltsam?«
    »Er kam mir irgendwie … heimlichtuerisch vor. Ich weiß auch nicht. Schuldbewusst.«
    Sie sprach das Wort nur widerwillig aus. Ich schaute sie an, während mir allmählich klar wurde, in welche Richtung ihre sorgenvollen Gedanken gingen. »Sie denken, er hat diese Flecken selbst herbeigeführt, oder?«, fragte ich leise.
    »Ich weiß es ja auch nicht«, erwiderte sie unglücklich. »Vielleicht im Schlaf … oder in so einer Art Anfall, wie Sie ihn vorhin erwähnt haben? Schließlich hat er ja auch die anderen Sachen gemacht … Wenn er Türen öffnen und Möbel herumrücken kann und sich dabei verletzt, wenn er um drei Uhr nachts in mein Zimmer kommt und mich auffordert, mit dem Möbelrücken aufzuhören – wäre es dann nicht möglich, dass er auch so etwas tut?« Sie blickte besorgt zur Tür und senkte die Stimme. »Und wenn er das tut, Herr Doktor, was bringt er dann womöglich noch alles fertig?«
    Ich überlegte einen Moment. »Haben Sie darüber schon mit Ihrer Mutter gesprochen?«
    »Nein, ich wollte sie nicht beunruhigen. Und was könnte ich ihr schon erzählen? Bloß ein paar seltsame Flecke. Ich weiß auch nicht, warum sie mich so beunruhigen … Nein, das stimmt nicht, ich weiß es sehr wohl.« Sie blickte peinlich berührt zu Boden. »Es liegt daran, dass wir schon einmal Probleme mit Rod hatten. Haben Sie davon gehört?«
    »Ihre Mutter hat ein paar Andeutungen gemacht«, sagte ich. »Es tut mir sehr leid. Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«
    Sie nickte. »Es war wirklich eine schreckliche Zeit. Rods Verletzungen waren schlimm, seine Narben sahen zum Fürchten aus, das Bein war so zerschmettert, dass es zuerst so aussah, als ob er den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben würde. Aber er wollte auch nichts dazu tun, dass es ihm besser ging, das war das eigentlich Schreckliche! Er saß bloß hier in seinem Zimmer, brütete vor sich hin und rauchte – und getrunken hat er auch, glaube ich. Sie haben vielleicht gehört, dass sein Navigator bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Ich glaube, er hat sich die Schuld daran gegeben. Natürlich hatte niemand Schuld daran. Niemand außer den Deutschen, meine ich. Aber es heißt ja, es wäre immer besonders schlimm für die Piloten, wenn sie ihre Besatzung verlieren. Der Junge war noch jünger als Roddie, gerade mal neunzehn. Rod sagte immer, es hätte lieber andersherum sein sollen: dass der Junge viel mehr gehabt hätte, für das es sich zu leben lohnte, als er selbst. So etwas hörten Mutter und ich natürlich besonders gern, wie Sie sich sicher vorstellen können.«
    »Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Hat er in letzter Zeit auch noch mal solche Gedanken geäußert?«
    »Mir gegenüber nicht. Und auch gegenüber Mutter nicht, soweit ich weiß. Aber ich merke, dass sie auch fürchtet, er könne wieder krank werden. Vielleicht liegt es auch nur an unserer Angst, dass wir uns viel zu viel einbilden. Ich weiß es nicht. Es ist nur … Irgendetwas stimmt einfach nicht. Irgendetwas geschieht mit Rod. Es ist, als ziehe er das Unglück an. Er geht kaum noch nach draußen, nicht einmal mehr zum Hof. Er bleibt einfach hier drinnen und sagt, dass er Papiere durcharbeiten müsse. Aber schauen Sie sich das doch mal an!«
    Sie deutete auf den Schreibtisch und den niedrigen Tisch neben seinem Sessel, die beide in einem Durcheinander von unordentlich aufgetürmten Briefen, Akten und dünnen maschinengeschriebenen Blättern zu verschwinden drohten. »Er geht in dem ganzen Kram unter«, sagte sie. »Aber er will mir auch nicht erlauben, ihm zu helfen. Er sagt, er hätte ein System, das ich nicht verstehen würde. Aber sieht das für Sie nach einem System aus? Der einzige Mensch, den er gelegentlich hier reinlässt, ist Betty. Wenigstens macht sie den

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