Der Besucher - Roman
solche Albträume bekommen habe. Aber wahrscheinlich hat der alte Doktor Gill nicht mal Blutegel darin gehalten, oder?«
»Ich fürchte, das hat er wahrscheinlich doch«, erwiderte ich. »Er war genau der Typ, der auf die Heilkraft von Blutegeln vertraut hat. Auf Blutegel, Lakritz und Lebertran. Legen Sie doch den Mantel ab. Ich hole nur eben was von nebenan.«
Ich ging in das benachbarte Sprechzimmer, öffnete eine Schreibtischschublade und holte eine Flasche und zwei Gläser.
»Jetzt denken Sie bitte nicht, dass ich normalerweise immer vor sechs Uhr abends etwas trinke. Aber Sie sehen so aus, als könnten Sie ein bisschen Aufmunterung gebrauchen, und es ist auch bloß ein süßer Sherry. Ich halte immer eine Flasche für die Schwangeren bereit. Die wollen entweder feiern – oder aber sie brauchen etwas gegen den Schock!«
Er lächelte, doch sein Lächeln erlosch genauso schnell wieder, wie es gekommen war.
»Ich habe gerade schon bei Babb was getrunken – aber der trinkt keinen süßen Sherry, das kann ich Ihnen versichern! Er sagte, wir müssten unbedingt auf den Vertrag anstoßen. Wenn wir es nicht täten, würde das Unglück bringen. Fast hätte ich ihm erwidert, dass das Unglück längst eingetroffen sei, was mich angeht – und der Verkauf des Landes sei ein Teil davon. Und was das Geld betrifft, das wir dafür bekommen haben – würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass schon so gut wie alles ausgegeben ist?«
Doch er nahm das Glas, das ich ihm reichte, und stieß mit mir an. Zu meiner Überraschung zitterte der Sherry in seiner Hand, woraufhin er, vielleicht um das Zittern zu verbergen, schnell einen Schluck trank und dann den Stiel des Glases zwischen den Fingern hin und her rollte. Während wir zu den Stühlen hinübergingen, betrachtete ich ihn genauer. Ich sah, wie er sich angespannt, aber dennoch merkwürdig teilnahmslos auf seinen Platz sinken ließ. Es war, als hätte er komische kleine Gewichte in seinem Körper, die unvermittelt hin und her rollten.
»Sie sehen ziemlich erschöpft aus, Rod«, stellte ich fest.
Er wischte sich mit der Hand die Lippe ab. Sein Handgelenk war immer noch verbunden, der Mullverband jedoch längst schmutzig und ausgefranst. »Das liegt bestimmt an der Sache mit dem Grundstücksverkauf«, sagte er.
»Sie sollten das nicht so persönlich nehmen. Es gibt wahrscheinlich Hunderte Grundbesitzer in England, die genau in der gleichen Situation stecken wie Sie und das Gleiche tun, was Sie heute getan haben.«
»Wahrscheinlich eher Tausende«, erwiderte er, jedoch ohne viel Nachdruck. »Alle, mit denen ich als Junge zur Schule gegangen bin, und auch all die Kerle, mit denen ich geflogen bin: Jedes Mal, wenn ich von einem von ihnen höre, ist es das Gleiche. Die meisten haben ihr Erbteil schon eingebüßt. Manche müssen eine Arbeit annehmen. Ihre Eltern stehen am Rande eines Nervenzusammenbruchs … Als ich heute Morgen die Zeitung aufschlug, ereiferte sich dort ein Bischof über die ›deutsche Schande‹. Warum schreibt eigentlich niemand einen Artikel über die ›englische Schande‹ – über den ganz gewöhnlichen, hart arbeitenden Engländer, der seit dem Krieg hat zusehen müssen, wie sich sein Besitz und sein Einkommen in Rauch aufgelöst haben. Und währenddessen prosperieren schmuddelige kleine Geschäftsleute wie Babb und Männer, die weder Land haben noch aus einer guten Familie kommen und auch nicht im Blickpunkt der ganzen Grafschaft stehen, Männer wie dieser verfluchte Baker-Hyde …«
Seine Stimme klang zunehmend gepresst, und schließlich verstummte er ganz. Er trank den Rest seines Sherrys und drehte dann wieder das leere Glas zwischen den Fingern, diesmal noch unruhiger als vorher. Sein Blick hatte sich plötzlich nach innen gewandt, und er wirkte beängstigend weit entfernt. Er bewegte sich, und wieder hatte ich das Gefühl, als kullerten unzureichend befestigte Gewichte in seinem Körper hin und her, die ihn aus dem Lot brachten.
Auch war ich bestürzt darüber, dass er Peter Baker-Hyde erwähnt hatte. Es gab mir eine Ahnung davon, was ihn die ganze Zeit über beschäftigt haben musste. Es war, als hätte er diesen Mann mit seiner gut aussehenden Frau, seinem Geld und seinen Kriegserfolgen zu einer Art Fetisch erhoben. Ich beugte mich zu ihm hinüber.
»Hören Sie, Rod. Sie dürfen so nicht reden. Diese Fixierung auf die Baker-Hydes oder was immer das ist … Lassen Sie lieber davon ab. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie haben,
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