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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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statt auf das, was Sie vermeintlich nicht haben. Viele Menschen würden Sie beneiden, wissen Sie.«
    Er verzog das Gesicht. »Mich beneiden?«
    »Ja, denken Sie nur mal an das Haus, in dem Sie leben. Ich weiß, dass es harte Arbeit ist, es am Laufen zu halten, aber um Himmels willen! Merken Sie denn nicht, dass Sie Ihrer Mutter und Ihrer Schwester das Leben noch schwerer machen, wenn Sie sich in diese Verbitterung ergeben? Ich weiß nicht, was in letzter Zeit in Sie gefahren ist. Wenn Sie irgendetwas auf dem Herzen haben …«
    »Mein Gott«, brauste er auf. »Wenn Ihnen das verdammte Haus so gut gefällt, warum versuchen Sie dann nicht selbst, es zu führen? Das würde ich ja gerne mal sehen. Sie haben ja gar keine Ahnung! Wenn ich nachlassen würde – und sei es auch nur für einen Moment –, dann …« Er schluckte, sein Adamsapfel zuckte quälend deutlich in seiner Kehle.
    »Was nachlassen?«, fragte ich.
    »Nachlassen darin, alles aufzuhalten. Es unter Kontrolle zu halten. Wissen Sie denn nicht, dass dieses verdammte Ding jeden Tag, jede Sekunde kurz davor steht, zusammenzustürzen und mich, Caroline und Mutter mit in die Tiefe zu reißen? Mein Gott, Sie haben ja keine Ahnung, keiner von euch! Es bringt mich noch um!«
    Er stützte sich mit der Hand ab, als wolle er sich vom Stuhl hochdrücken, doch dann schien er seine Absicht zu ändern und ließ sich unvermittelt wieder fallen. Nun zitterte er ganz offensichtlich – ob vor Aufregung oder Wut, wusste ich nicht, aber ich wandte den Blick ab, um ihm Zeit zu geben, sich wieder zu fangen. Der Ofen zog nicht so, wie er sollte; ich beugte mich hinüber und machte mich am Abzug zu schaffen. Doch währenddessen merkte ich, dass Rod unruhig hin und her rückte; bald zappelte er so heftig, dass es schon unnormal war. »Zum Teufel«, hörte ich ihn mit leiser, verzweifelter Stimme sagen. Ich schaute mich um und sah, dass er leichenblass war; er schwitzte und zitterte wie jemand, der hohes Fieber hat.
    Erschrocken stand ich auf. Einen Augenblick dachte ich, dass ich mit meiner Theorie über die Epilepsie womöglich recht hatte, dass er kurz vor einem Anfall stand, hier und jetzt, gleich mir gegenüber.
    Doch dann hielt er sich eine Hand vor das Gesicht. »Schauen Sie mich nicht so an!«, sagte er.
    »Wie bitte?«
    »Schauen Sie mich nicht so an! Stellen Sie sich da drüben hin!«
    Da ging mir auf, dass er nicht krank war, sondern von einer schrecklichen Panikattacke heimgesucht wurde, und seine Verlegenheit darüber, dass ich ihn so sah, machte es nur noch schlimmer. Also wandte ich ihm den Rücken zu, trat ans Fenster und blickte durch die verstaubte Gardine nach draußen. Noch heute kann ich mich genau erinnern, wie mir der scharfe Staubgeruch in der Nase kitzelte. »Rod …«, sagte ich.
    »Schauen Sie mich nicht an!«
    »Ich schaue Sie nicht an. Ich schaue nach draußen auf die Hauptstraße.« Ich konnte seinen raschen, angestrengten Atem hören, die Tränen, die ihm in der Kehle standen. Mit ruhiger, fester Stimme sagte ich: »Ich kann mein Auto sehen. Es sieht so aus, als müsste es dringend mal wieder gewaschen und poliert werden. Ihres sehe ich auch, weiter unten auf der Straße, das sieht fast noch schlimmer aus … Da kommt Mrs. Walker mit ihrem kleinen Jungen vorbei. Und dahinten geht Enid, von den Desmonds. Sieht so aus, als hätte sie schlechte Laune, sie hat sich den Hut ganz schief aufgesetzt. Und da kommt Mr. Crouch auf die Treppe vor seinem Haus, um ein Tuch auszuschütteln … Darf ich Sie jetzt wieder anschauen?«
    »Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind! Reden Sie weiter!«
    »Gut, ich rede weiter. Komisch, wie schwierig es plötzlich ist, einfach zu reden, wenn einem jemand sagt, man solle nicht damit aufhören. Aber natürlich bin ich es auch eher gewöhnt zuzuhören. Haben Sie darüber schon mal nachgedacht, Rod? Wie viel man in meinem Beruf zuhören muss? Oft denke ich, dass wir Hausärzte wie Priester sind. Die Leute vertrauen uns ihre Geheimnisse an, weil sie wissen, dass wir sie nicht verurteilen. Sie wissen, dass wir daran gewöhnt sind, Menschen in ihrer Nacktheit zu betrachten. Manche Ärzte haben allerdings auch ein Problem damit. Ich kenne einige, die in ihrem Leben so viel Schwäche gesehen haben, dass sie eine Art Verachtung für die ganze Menschheit entwickelt haben. Ich habe Ärzte gekannt – eine ganze Reihe sogar, mehr als Sie denken würden –, die dem Alkohol verfallen sind. Andere dagegen macht ihr Beruf demütig. Tagtäglich erleben

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