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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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der Zorn in den Augen stand. »Sie darf nichts davon erfahren. Und meine Schwester auch nicht. Sie dürfen es ihnen nicht erzählen. Sie haben mir versprochen, es für sich zu behalten. Sie haben mir Ihr Wort gegeben, und ich habe Ihnen vertraut. Sie dürfen auch nicht mit diesem befreundeten Arzt sprechen. Sie sagen mir, dass ich langsam verrückt werde. Na schön, dann glauben Sie das ruhig, wenn Sie sich dann besser fühlen; wenn Sie zu feige sind, um der Wahrheit ins Auge zu sehen. Aber dann zeigen Sie wenigstens so viel Anstand und lassen mich in Ruhe verrückt werden, ohne noch andere mit hineinzuziehen.«
    Sein Tonfall war kühl und schroff, doch er klang auf absurde Weise vernünftig. Er legte sich den Gurt seines Tornisters über die Schulter und klappte die Mantelaufschläge hoch. Einzig sein blasses Gesicht und die leichte Rötung seiner Augen deuteten auf die phantastischen Wahnvorstellungen hin, die Besitz von ihm ergriffen hatten; ansonsten sah er aus wie immer, ganz der junge Landedelmann. Mir war klar, dass ich ihn nicht aufhalten konnte. Er bewegte sich auf die Tür der Arzneiausgabe zu, doch Stimmengemurmel hinter der Tür ließ vermuten, dass die ersten Patienten meiner Abendsprechstunde eingetroffen waren, daher deutete er ungeduldig auf mein Sprechzimmer, und ich begleitete ihn dort hinein und entließ ihn durch die Gartentür nach draußen. Ich ließ ihn nur schweren Herzens gehen und hatte das ungute Gefühl, gescheitert zu sein. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, trat ich zum Fenster der Arzneiausgabe, stellte mich hinter die staubige Gardine und sah, wie er von der Seite des Hauses her wieder auftauchte und raschen Schrittes die Hauptstraße hinunter bis zu seinem Auto hinkte.
     
    Was sollte ich tun? Mir war klar – erschreckend klar –, dass Rod während der vergangenen Wochen ein Opfer ausgeprägter Wahnvorstellungen geworden war. Das war an sich nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigte, welch großen Belastungen er in der letzten Zeit ausgesetzt gewesen war. Offensichtlich waren Druck und Bedrohung in seinem Empfinden so übermächtig geworden, dass sich selbst »ganz gewöhnliche Dinge« – wie er es selbst mehrmals formuliert hatte – gegen ihn zu erheben schienen. Dass die Wahnvorstellungen zum ersten Mal an dem Abend aufgetreten waren, als er den Gastgeber für seinen sehr viel erfolgreicheren Nachbarn spielen sollte, war womöglich auch keine Überraschung; und ich sah auch durchaus eine traurige Bedeutung darin, dass der schlimmste Teil seines Erlebnisses sich ausgerechnet um einen Spiegel drehte, der, ehe er zu seinem »Spaziergang« aufbrach, Rod sein vernarbtes Gesicht gezeigt hatte und schließlich in Scherben auf dem Boden gelandet war. Das alles war, wie gesagt, schon schockierend genug, ließ sich jedoch noch als Folge von Stress und nervlicher Überlastung erklären. Viel beunruhigender war meiner Meinung nach die Tatsache, dass er seiner Wahnvorstellung immer noch so stark anhing, dass er daraus die Angst abgeleitet hatte, seine Mutter und Schwester könnten von dem diabolischen Etwas in seinem Zimmer »infiziert« werden, wenn er nicht da war, um es in Schach zu halten.
    In den nächsten Stunden ging mir sein Zustand immer wieder durch den Kopf. Selbst während ich mich mit meinen anderen Patienten beschäftigte, schien ein Teil von mir immer noch bei Rod zu sein und hörte bestürzt seiner schrecklichen Geschichte zu. Ich glaube kaum, dass es in meiner ärztlichen Laufbahn je zuvor eine Situation gegeben hat, in der ich so ratlos gewesen war, wie ich weiter vorgehen sollte. Zweifellos beeinträchtigte meine Beziehung zu der Familie meine Beurteilung der Lage. Wahrscheinlich hätte ich den Fall sofort jemand anderem übergeben sollen. Aber andererseits: War es überhaupt ein Fall? Schließlich war Rod an diesem Tag nicht zu mir gekommen, um sich einen medizinischen Rat zu holen. Im Gegenteil, er war, wie er selbst betont hatte, gar nicht bereit gewesen, sich mir anzuvertrauen. Und natürlich kam es nicht in Frage, dass ich oder ein anderer Arzt für unseren Rat oder unsere Hilfe bezahlt wurden. Zu jenem Zeitpunkt nahm ich nicht an, dass er für sich oder andere eine Gefahr darstellte. Ich hielt es eher für wahrscheinlich, dass seine Wahnvorstellung allmählich immer stärker werden würde, bis sie schließlich vollständig Besitz von ihm ergriffen hätte, oder anders gesagt: dass er sich völlig zermürben würde, bis zum völligen geistigen

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