Der Besucher - Roman
ihr noch eine weitere Sorge aufzubürden. Ich erinnerte mich wieder an das Gespräch, das ich in der vorangehenden Woche mit Caroline über ihren Bruder geführt hatte, und kam zu dem Schluss, dass ich vielleicht besser zunächst mit ihr allein sprechen sollte. Die nächsten Minuten versuchte ich vergeblich, noch einmal unauffällig ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Als Betty dann mit dem Teetablett zurückgekehrt war, stand ich auf und tat so, als wollte ich mit dem Tablett helfen, dann trug ich Carolines Tasse zu ihr hinüber, während Betty Mrs. Ayres einschenkte. Als Caroline mich ein wenig überrascht anblickte und die Tasse entgegennahm, beugte ich den Kopf zu ihr herunter und flüsterte: »Können wir irgendwo ungestört reden?«
Sie wich ein Stück zurück, überrascht von meinem Vorschlag oder vielleicht auch nur, weil sie meinen Atem so dicht an ihrer Wange gespürt hatte. Sie blickte mich an, sah dann unauffällig zu ihrer Mutter hinüber und nickte. Ich ging zum Sofa zurück. Wir ließen fünf oder zehn Minuten verstreichen, während wir den Tee tranken und die dünnen, trockenen Kuchenscheiben aßen, die Betty dazu serviert hatte.
Dann stand Caroline plötzlich auf, als sei ihr soeben eine Idee gekommen.
»Mutter, das habe ich ganz vergessen, dir zu erzählen«, sagte sie. »Ich habe ein paar von unseren alten Büchern zusammengestellt, um sie dem Roten Kreuz zu geben. Vielleicht könnte Dr. Faraday sie ja in seinem Auto mit zurück nach Lidcote nehmen. Ich möchte Rod nur ungern darum bitten. Würden Sie die Bücher vielleicht mitnehmen, Herr Doktor? Sie stehen in der Bibliothek, alle schon ordentlich verpackt.«
Sie sprach ohne jede Spur von Verlegenheit oder Röte im Gesicht, doch ich muss gestehen, dass mir das Herz klopfte. Mrs. Ayres erwiderte missmutig, dass sie uns sicherlich für ein paar Minuten entbehren könne, und widmete sich dann wieder den altersmürben Alben.
»Es wird auch nicht lange dauern«, sagte Caroline mit normaler, unauffälliger Stimme zu mir, während ich die Tür öffnete, gab mir jedoch mit ihrem Blick zu verstehen, ich solle den Flur entlanggehen. Rasch gingen wir in die Bibliothek, wo sie ans Fenster trat und den einzigen funktionierenden Laden öffnete. Als das winterliche Licht hereinfiel, schienen die verhüllten Bücherregale zum Leben zu erwachen wie Geister. Ich tat ein paar Schritte vorwärts, aus dem tiefsten Dunkel heraus, und Caroline kam zu mir.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie ernst. »Ist etwas mit Rod?«
»Ja«, erwiderte ich. Und dann erzählte ich ihr so kurz ich eben konnte, was ihr Bruder mir am Vorabend in meiner Arzneiausgabe gebeichtet hatte. Sie hörte mit wachsendem Entsetzen zu – doch, wie mir schien, auch mit einer Art Begreifen, als ob das, was ich ihr erzählte, für sie plötzlich einen furchtbaren Sinn ergab und ihr einen Hinweis zur Lösung des düsteren Rätsels bot, das sie bisher nicht hatte verstehen können. Sie unterbrach mich nur ein einziges Mal, nämlich als ich wiederholte, was Rod über das Auftauchen des Flecks an seiner Zimmerdecke erzählt hatte. Da fasste sie mich mit festem Griff am Arm und rief: »Dieser Fleck – und auch die anderen. Wir haben sie gesehen. Ich wusste doch, dass irgendetwas komisch daran war. Sie glauben doch nicht …? Könnte es vielleicht …?«
Überrascht stellte ich fest, dass sie fast bereit schien, die Behauptungen ihres Bruders für bare Münze zu nehmen. »Alles Mögliche kann diese Flecken verursacht haben, Caroline«, sagte ich. »Rod könnte sie selbst verursacht haben, bloß um seine Wahnvorstellung zu stützen. Vielleicht hat auch das Auftauchen der Flecke diese ganze Geschichte in seinem Kopf überhaupt erst in Gang gesetzt.«
Sie zog ihre Hand wieder zurück. »Ja, natürlich … Und Sie glauben wirklich, dass es so ist? Es könnte nicht etwas anderes dahinterstecken? Epileptische Anfälle, wie Sie vorher vermutet haben?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mir wäre auch lieber, wenn es ein physisches Problem gäbe; das wäre einfacher zu behandeln. Doch ich fürchte, wir haben es hier mit einer Art … nun … mit einer Art Geisteskrankheit zu tun.«
Meine Worte erschütterten sie; einen Moment lang sah sie richtig erschrocken aus, doch dann sagte sie: »Der arme Rod. Das ist furchtbar, nicht wahr? Was können wir bloß tun? Wollen Sie es meiner Mutter sagen?«
»Das hatte ich vor. Deshalb bin ich ursprünglich hergekommen. Doch als ich sie da mit diesen Fotografien gesehen habe
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