Der Besucher - Roman
Zusammenbruch.
Mein größtes Dilemma war die Frage, ob ich Mrs. Ayres und Caroline etwas erzählen sollte, und wenn ja, was. Ich hatte Rod versprochen, nichts verlauten zu lassen, und obwohl es nicht ganz ernst gemeint war, als ich mich mit einem Priester verglichen hatte, geht kein Arzt leichtfertig mit seiner Schweigepflicht um. Ich verbrachte einen ziemlich unruhigen Abend und schwankte hin und her, was ich tun sollte. Als es schon beinahe zehn Uhr war, lief ich schließlich zu den Grahams hinüber, um mit ihnen über die Angelegenheit zu sprechen. Ich hatte in den letzten Wochen weniger Zeit mit ihnen verbracht als sonst, und Graham war überrascht, mich an seiner Tür zu sehen. Anne sei oben, erzählte er, eines der Kinder sei nicht ganz auf dem Damm, doch er führte mich ins Wohnzimmer und hörte sich meine Geschichte an.
Sie erschreckte ihn genauso, wie sie mich erschreckt hatte.
»Wie konnte es denn plötzlich so schlimm werden? Gab es vorher keinerlei Anzeichen?«
»Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte«, erwiderte ich. »Aber damit hätte ich nicht gerechnet.«
»Was hast du denn nun vor?«
»Darüber versuche ich mir gerade klar zu werden. Ich bin noch nicht einmal zu einer genauen Diagnose gekommen.«
Er dachte nach. »Ich vermute, an Epilepsie hast du schon gedacht, oder?«
»Das war mein erster Gedanke. Ich glaube immer noch, dass es einiges erklären könnte. Die Aura mit ihren merkwürdigen Sinneswahrnehmungen, auditive, visuelle und so weiter. Der Anfall selbst, die anschließende Erschöpfung; bis zu einem gewissen Grad würde alles passen. Aber ich glaube nicht, dass es die ganze Geschichte erklärt.«
»Und eine Schilddrüsenüberfunktion?«, meinte er.
»Daran habe ich auch gedacht. Aber das wäre ziemlich schwer zu übersehen, nicht wahr? Und es gibt keinerlei weitere Anzeichen dafür.«
»Könnte irgendetwas die Hirnfunktion beeinträchtigen? Zum Beispiel ein Tumor?«
»Mein Gott, das hoffe ich doch nicht. Möglich wäre es natürlich. Aber auch dafür gibt es keinerlei weitere Anzeichen … Nein, ich habe das Gefühl, dass es rein nervlich bedingt ist.«
»Das ist natürlich in gewisser Weise genauso schlimm.«
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Und weder seine Mutter noch seine Schwester wissen es. Meinst du, ich sollte es ihnen sagen? Die Frage bereitet mir wirklich Sorgen.«
Er schüttelte den Kopf und blies die Backen auf. »Du kennst sie natürlich inzwischen viel besser als ich. Aber Roderick wird es dir sicherlich nicht danken. Außerdem würde es ihn vielleicht in eine Art Krise treiben.«
»Oder ihn gänzlich unerreichbar machen.«
»Das Risiko besteht sicher. Warum lässt du es dir nicht noch ein paar Tage in Ruhe durch den Kopf gehen?«
»Und währenddessen steuern die Dinge auf Hundreds immer weiter ins Chaos«, meinte ich düster.
»Das zumindest ist nicht dein Problem«, erwiderte er.
Sein Tonfall klang ziemlich distanziert. So hatte er auch schon bei anderen Gelegenheiten gesprochen, wenn wir über die Ayres geredet hatten, doch jetzt ärgerte ich mich ein wenig darüber. Ich trank mein Glas aus und trat den Heimweg an. Ich war ihm dankbar, dass er mir zugehört hatte und ich den Fall mit ihm besprechen konnte, doch was ich tun sollte, wusste ich immer noch nicht. Erst als ich die dunkle Arzneiausgabe betrat und die beiden Stühle sah, die immer noch vor dem Ofen standen, hörte ich in Gedanken wieder Rods stockende, verzweifelte Stimme, und die ganze Geschichte überfiel mich noch einmal mit voller Wucht. Da wurde mir bewusst, dass es meine Pflicht war, der Familie so bald wie möglich wenigstens einen kleinen Hinweis auf seinen Zustand zu geben.
Doch als ich am folgenden Morgen zum Herrenhaus fuhr, war ich ziemlich düsterer Stimmung. Es kam mir so vor, als ob meine Begegnungen mit den Ayres hauptsächlich darin bestanden, sie entweder vor etwas zu warnen oder aber um ihretwillen irgendeinen trostlosen Auftrag auszuführen. Mit dem Tagesanbruch hatte auch meine Entschlossenheit etwas nachgelassen. Ich musste wieder an das Versprechen denken, das ich Rod gegeben hatte, fuhr daher nur mit sehr widerstreitenden Gefühlen dorthin und hoffte bloß, dass ich ihm weder im Park noch im Haus begegnen möge. Seit meinem letzten Besuch waren erst ein paar Tage vergangen, und weder Mrs. Ayres noch Caroline rechneten mit mir. Ich traf beide im kleinen Salon an, merkte jedoch sofort, dass mein unangekündigtes Auftauchen sie ziemlich durcheinanderbrachte.
»Also,
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