Der Besucher - Roman
Sie halten uns ja ganz schön auf Trab, Herr Doktor!«, sagte Mrs. Ayres und fasste sich mit einer ringlosen Hand ans Gesicht. »Ich hätte mich doch nicht so leger gekleidet, wenn ich geahnt hätte, dass Sie kommen. Haben wir denn etwas in der Küche, was wir dem Doktor zu seiner Tasse Tee anbieten können, Caroline? Ich glaube, wir haben noch Brot und Margarine. Am besten läutest du mal nach Betty.«
Aus Angst, Roderick aufzuschrecken, hatte ich mein Kommen absichtlich nicht telefonisch angekündigt. Inzwischen war ich daran gewöhnt, auf Hundreds ein und aus zu gehen, und daher war es mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass mein Besuch ihnen ungelegen sein könnte. Mrs. Ayres sprach zwar höflich, aber mit leicht gereiztem Unterton. Ich hatte sie noch nie so wenig gefasst erlebt; es war, als hätte ich sie nicht nur ohne Schmuck und Puder, sondern auch ohne ihren Charme überrascht. Doch der Grund für ihre schlechte Laune wurde gleich darauf deutlich, denn um mich hinzusetzen, musste ich zunächst einige wellige Pappkartons vom Sofa räumen. Es handelte sich um Kartons mit alten Familienalben, die Caroline kürzlich in einem Schrank im ehemaligen Tageswohnzimmer entdeckt hatte. Bei näherer Betrachtung hatte sich gezeigt, dass sie durch Feuchtigkeit fleckig und schimmlig geworden und praktisch nicht mehr zu retten waren.
»Eine Tragödie!«, sagte Mrs. Ayres und zeigte mir die brüchigen Seiten. »Das sind Fotos aus weit über achtzig Jahren – und nicht nur aus der Familie des Colonels, sondern auch von meiner Seite, von den Singletons und Brookes. Und wissen Sie was: Ich habe Caroline und Roderick schon vor Monaten gebeten, nach diesen Fotografien zu suchen und nachzuschauen, ob sie auch gut verstaut sind. Ich hatte keine Ahnung, dass sie überhaupt im Tageswohnzimmer waren; ich dachte, sie wären irgendwo auf dem Speicher verräumt.«
Ich blickte Caroline an, die sich, nachdem sie nach Betty geläutet hatte, wieder auf ihren Sessel gesetzt hatte und geduldig, aber unnahbar in einem Buch blätterte. Ohne den Blick von den Seiten zu heben, sagte sie: »Auf dem Dachboden wären sie auch nicht besser dran gewesen, fürchte ich. Das letzte Mal war ich dort oben, um nach der ein oder anderen undichten Stelle im Dach zu schauen. Da standen Körbe voller Bücher aus Roddies und meinen Kindertagen, und die hatten auch alle Stockflecken.«
»Das hättest du mir aber sagen sollen, Caroline.«
»Ich bin sicher, dass ich das damals auch getan habe.«
»Ich weiß ja, dass ihr vieles im Kopf habt, dein Bruder und du, aber diese Sache mit den Fotos ist wirklich sehr betrüblich. Sehen Sie sich bloß mal das hier an, Herr Doktor.« Sie reichte mir ein altes Visitenkartenporträt auf starrem Karton, dessen ohnehin schon verblichenes viktorianisches Motiv nun beinahe gänzlich von rostfarbenen Flecken überlagert wurde. »Das ist der Vater des Colonels als junger Mann. Ich fand immer, dass Roderick ihm sehr ähnlich sieht.«
»Ja«, erwiderte ich geistesabwesend. Ich wartete angespannt auf eine Gelegenheit, zu meinem Thema zu kommen. »Wo ist Roderick eigentlich?«
»Ach, ich nehme an, in seinem Zimmer.« Sie suchte ein weiteres Foto heraus. »Das hier ist auch verdorben … Und das auch … An dieses kann ich mich noch erinnern – oh nein, wie schrecklich! Das ist ja vollkommen ruiniert! Meine Familie, kurz vor Ausbruch des Krieges. Da sind alle meine Brüder, schauen Sie mal – man kann sie gerade noch erkennen: Charlie, Lionel, Mortimer und Frank, und da ist meine Schwester Cissie. Ich war gerade ein Jahr verheiratet und hatte ein Baby bekommen. Zu dem Zeitpunkt wussten wir es noch nicht, aber das sollte das letzte Mal sein, dass meine Familie in der Form zusammenkam, denn sechs Monate später fing der Krieg an, und zwei meiner Brüder fielen schon ganz zu Anfang.«
Ihre Stimme hatte sich verändert und klang aufrichtig bekümmert. Nun sah auch Caroline von ihrem Buch auf, und wir wechselten einen Blick. Betty kam und wurde nach Tee geschickt, den ich nicht wollte und für den ich auch gar keine Zeit hatte, und Mrs. Ayres arbeitete sich mit traurigem, geistesabwesenden Blick weiter durch die eingetrübten Fotografien. Ich dachte an all das, was sie in der letzten Zeit durchgemacht hatte, und an die schrecklichen Neuigkeiten, die ich ihr nun überbringen wollte. Ich betrachtete die unruhigen Bewegungen ihrer Hände, die ohne Ringe nackt und grobknochig wirkten. Und plötzlich erschien es mir schlichtweg zu viel,
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