Der Besucher - Roman
…«
»Es sind nicht bloß die Fotos«, sagte sie. »Mutter verändert sich. Meistens ist sie ganz die Alte. Aber an einzelnen Tagen ist sie so, wie Sie sie eben gesehen haben. Dann ist sie zerstreut und rührselig. Sie denkt zu viel an die Vergangenheit. Sie und Rod haben sich wegen der Farm fast gestritten. Offenbar gibt es neue Schulden. Er nimmt das alles so persönlich. Dann schließt er sich immer ein. Aber nun verstehe ich auch, warum. Das ist ja entsetzlich … Hat er wirklich diese erschreckenden Dinge gesagt und das auch ernst gemeint? Sie haben ihn nicht vielleicht missverstanden?«
»Ich wünschte wirklich, ich hätte es. Aber nein, ich fürchte, da gab es nichts misszuverstehen. Wenn er nicht zulassen will, dass ich ihn behandle, können wir nur hoffen, dass sich sein geistiger Zustand irgendwie von allein wieder stabilisiert. Das könnte passieren, jetzt, wo die Baker-Hydes weggezogen sind und diese ganze schreckliche Geschichte endlich erledigt ist – obwohl das mit der Farm natürlich keine guten Neuigkeiten sind. Auf jeden Fall kann ich nichts für ihn tun, solange er diese fixe Idee hat, dass er Sie und Ihre Mutter beschützen müsste.«
»Und wenn ich mal mit ihm rede?«
»Sie könnten es natürlich versuchen, obwohl ich es nicht für gut halte, wenn Sie Ihren eigenen Bruder so erleben müssten, wie ich ihn gestern erlebt habe. Vielleicht ist es das Beste, wenn Sie ihn einfach im Auge behalten – wenn wir beide ihn beobachten und hoffen, dass es mit ihm nicht schlimmer wird.«
»Und wenn doch?«
»Wenn es sich doch verschlimmert«, erwiderte ich, »dann, nun ja … Wenn dies hier ein anderes Haus wäre, mit einer gewöhnlichen Familie darin, wüsste ich, was ich tun würde. Ich würde David Graham mitbringen und Rod in eine psychiatrische Abteilung zwangseinweisen.«
Sie schlug sich entsetzt mit der Hand vor den Mund. »Aber so weit wird es doch wohl nicht kommen, oder?«
»Ich denke da an diese Verletzungen, die er hatte. Für mich sieht es so aus, als ob er sich selbst bestrafen will. Er fühlt sich ganz offenbar schuldig, vielleicht wegen dem, was gerade mit Hundreds geschieht. Vielleicht fühlt er sich auch noch schuldig am Tod seines Navigators im Krieg. Vielleicht versucht er, sich selbst zu verletzen, beinahe unbewusst. Andererseits könnte es natürlich auch sein, dass er damit unsere Hilfe sucht. Er weiß, was ich als Arzt bewirken kann. Es könnte sein, dass er sich genau in der Hoffnung verletzt, dass ich interveniere und drastische Maßnahmen ergreife.«
Ich hielt inne. Wir standen in dem schwachen Lichtstreifen, der durch den geöffneten Laden hereinfiel, und hatten die ganze Zeit über in angespanntem Flüsterton geredet. Plötzlich hörten wir irgendwo hinter mir, von dort, wo es am dunkelsten war, das leise Quietschen von Metall. Wir fuhren beide herum. Wieder erklang das Quietschen. Es kam von der Türklinke, die sich langsam in ihrem Beschlag herunterbewegte. Angespannt wie wir waren, wirkte die Bewegung der Klinke in dem düsteren Raum fast unheimlich. Ich hörte, wie Caroline die Luft einzog, und merkte, wie sie ein wenig näher an mich heranrückte, als hätte sie Angst. Als sich die Tür dann langsam öffnete und wir Roderick im Licht der Eingangshalle stehen sahen, waren wir wohl beide im ersten Augenblick fast erleichtert. Doch dann sahen wir seine Miene und fuhren hastig auseinander.
Vermutlich sahen wir genauso schuldbewusst aus, wie wir uns fühlten. Rod sagte mit kühler Stimme: »Ich habe Ihr Auto gehört, Herr Doktor. Ich hatte schon fast damit gerechnet.« Dann wandte er sich an seine Schwester. »Was hat er dir denn erzählt? Dass ich nicht ganz richtig im Kopf bin? Wahrscheinlich hat er Mutter das Gleiche erzählt.«
»Ich habe noch gar nicht mit Ihrer Mutter gesprochen«, sagte ich, ehe Caroline etwas erwidern konnte.
»Na, das war aber nobel von Ihnen!« Er blickte seine Schwester wieder an. »Er hat mir sein Wort gegeben, dass er es für sich behalten würde. Da sieht man mal, wie wenig man auf das Versprechen eines Arztes geben kann. Jedenfalls, wenn es sich um so einen Arzt handelt, wie er einer ist!«
Caroline ignorierte seine Bemerkung. »Roddie, wir machen uns Sorgen um dich«, sagte sie. »Du bist nicht mehr du selbst, das merkst du doch auch. Komm doch bitte richtig herein. Wir wollen doch nicht, dass Mutter oder Betty uns hören.«
Er zögerte einen Augenblick, dann trat er ein und schloss die Tür hinter sich. » Du glaubst also auch,
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