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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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mich ernst und prüfend an. Nach kurzem Zögern meinte sie: »Sind Sie sich denn sicher? Darüber, was er Ihnen erzählt hat, meine ich? Er klang so … so normal.«
    »Ja, ich weiß. Aber wenn Sie ihn gestern erlebt hätten, würden Sie nicht mehr so denken. Obwohl er selbst da noch ziemlich überlegt gesprochen hat. Ich kann nur sagen, dass ich noch nie eine so merkwürdige Mischung von Vernunft und Wahnvorstellungen erlebt habe wie bei ihm.«
    »Und Sie glauben nicht … Könnte nicht irgendetwas Wahres dran sein an dem, was er sagt?«
    Ich war, gelinde gesagt, überrascht, dass sie diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. »Caroline, es tut mir leid«, erwiderte ich. »Ich weiß ja, dass es nur schwer zu begreifen ist, wenn so etwas mit einem geliebten Menschen geschieht.«
    »Ja, das ist es wohl«, meinte sie, immer noch mit leisem Zweifel. Dann legte sie die Hände aneinander und rieb sich zitternd die Finger.
    »Ihnen ist kalt«, stellte ich fest.
    Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht kalt. Ich habe bloß Angst.«
    Mit einer unsicheren Bewegung legte ich meine Hände auf ihre. Sofort umklammerten ihre Finger dankbar meine Hand.
    »Ich wollte Ihnen keine Angst machen«, sagte ich. »Es tut mir sehr leid, dass ich Sie damit belasten muss.« Ich blickte mich in der Bibliothek um. »An einem Tag wie diesem ist das Haus wirklich düster und trostlos. Wahrscheinlich rührt daher auch ein Teil von Rods Problemen. Wenn er sich die Dinge nur nicht so hätte entgleiten lassen …! Und jetzt – ach verdammt!« Verärgert stellte ich fest, dass es schon spät war. »Ich muss leider gehen. Kommen Sie zurecht? Und bitte sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn sich irgendetwas verändert!«
    Sie versprach mir, sich dann sofort zu melden. »Braves Mädchen!«, sagte ich und drückte ihre Finger noch einmal. Sie ließ ihre Hände noch einen Moment in meinen liegen, dann zog sie sie langsam zurück. Wir machten uns wieder auf den Weg in den kleinen Salon.
    »Sie sind ja eine halbe Ewigkeit fort gewesen!«, sagte Mrs. Ayres. »Und was um alles in der Welt war dieser laute Knall? Betty und ich hatten schon Angst, das Dach stürzt ein!«
    Das Mädchen stand neben ihr; Mrs. Ayres musste sie zurückgehalten haben, als sie das Teetablett abholen kam, oder vielleicht hatte sie auch eigens nach ihr geläutet. Jedenfalls zeigte sie Betty offenbar gerade die beschädigten Fotografien; sie hatte etwa ein halbes Dutzend vor sich ausgebreitet – anscheinend Kinderbilder von Caroline und Roderick – und sammelte sie nun ungeduldig wieder ein.
    Caroline erwiderte: »Tut mir leid, Mutter. Ich habe eine Tür zufallen lassen. Ich fürchte, nun ist überall Staub auf dem Boden der Bibliothek. Würdest du dich bitte darum kümmern, Betty?«
    Betty neigte den Kopf und knickste. »Ja, Miss«, erwiderte sie und machte sich auf den Weg.
    Da ich keine Zeit zu verlieren hatte, verabschiedete ich mich höflich, aber geschwind und versuchte Caroline mit meinem Blick mein vollstes Mitgefühl und meine Unterstützung zu signalisieren. Dann verließ ich ebenfalls das Zimmer . Von der Eingangshalle aus sah ich durch die geöffnete Tür der Bibliothek, wie Betty auf Knien mit Schaufel und Besen ohne viel Begeisterung den fadenscheinigen Teppich abkehrte. Und erst als ich sah, wie ihre schlanken Schultern sich hoben und senkten, fiel mir wieder ihr seltsamer Gefühlsausbruch an dem Morgen ein, als ich Gyp eingeschläfert hatte. Es schien mir ein merkwürdiger Zufall, dass ihre Behauptung, auf Hundreds sei »was Böses« am Werk, nun ein Echo in Rodericks Wahnvorstellungen gefunden hatte. Ich trat in die Bibliothek, sprach sie leise an und erkundigte mich, ob sie irgendetwas gesagt hatte, das Rod diese Idee in den Kopf gesetzt haben könnte.
    Sie schwor, dass sie nichts gesagt habe.
    »Sie haben mir doch gesagt, dass ich nix sagen soll«, erwiderte sie. »Also hab ich auch nix gesagt, kein Wort!«
    »Nicht einmal im Spaß?«
    »Nein!«
    Sie sprach mit großer Ernsthaftigkeit, aber, wie mir schien, auch mit einem Hauch Schadenfreude. Plötzlich erinnerte ich mich wieder daran, was sie für eine überzeugende Schauspielerin sein konnte. Ich blickte in ihre ausdruckslosen grauen Augen und war mir zum ersten Mal nicht ganz sicher, ob ihr Blick arglos oder verschlagen war. Ich fragte noch einmal: »Bist du dir wirklich ganz sicher? Du hast wirklich nichts gesagt oder gemacht? Vielleicht um ein bisschen Leben in die Bude zu bringen? Ein paar Sachen

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