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Der Besucher - Roman

Der Besucher - Roman

Titel: Der Besucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Waters
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vernachlässigt das Haus tatsächlich war, jedenfalls überfiel mich die düstere, freudlose Atmosphäre, kaum dass ich die Eingangshalle betreten hatte. Einige der Glühbirnen in den Wandlampen waren kaputt, und genau wie am Abend der Gesellschaft schien die Treppe ins Dunkel emporzusteigen; jedoch war die Wirkung heute merkwürdig finster, so als habe sich die raue Nacht durch ein paar Ritzen im Mauerwerk hereingedrängt und hinge nun dicht wie feuchter Nebel im Herzen des Hauses. Zudem war es unangenehm kalt. Ein paar überalterte Heizkörper blubberten vor sich hin, doch ihre Wärme verlor sich sofort in den hohen Räumen. Ich ging durch den marmorgefliesten Korridor und traf die Familie im kleinen Salon an. Sie hatten ihre Sessel dicht vor den Kamin gerückt, um warm zu bleiben, und ihre Kleidung wirkte einigermaßen exzentrisch: Caroline trug einen kurzen Umhang aus zerfressenem Seehundfell über ihrem Kleid, Mrs. Ayres ein steifes Abendkleid aus Seide, eine Smaragdkette und ihre Ringe. Um die Schultern hatte sie etliche, sich farblich beißende spanische und indische Tücher gehüllt, und auf dem Kopf trug sie wieder ihre schwarze Mantilla. Roderick trug unter seinem Smokingjackett eine wollene Weste von undefinierbarer heller Farbe sowie wollene Halbfingerhandschuhe.
    »Sie müssen unseren Aufzug verzeihen, Herr Doktor«, sagte Mrs. Ayres, während sie mir entgegentrat. »Wenn ich mir vorstelle, wie wir aussehen müssen, ist es mir richtig peinlich!« Doch sie sagte es leichthin, beinahe fröhlich, und ihr Benehmen deutete darauf hin, dass sie keine Ahnung hatte, wie skurril sie und ihre Kinder tatsächlich aussahen. Irgendwie fühlte ich mich peinlich berührt, wahrscheinlich, weil ich sie alle, ebenso wie das Haus, plötzlich so sah, wie sie wohl einem Fremden erscheinen würden.
    Rod betrachtete ich besonders genau und war ziemlich betroffen von dem, was ich sah. Während seine Mutter und Schwester mich begrüßten, hielt er sich betont im Hintergrund. Und obwohl er mir schließlich die Hand schüttelte, war sein Händedruck schlaff; er sagte kein Wort und blickte mir kaum in die Augen, und mir war klar, dass er mich bloß der Höflichkeit halber begrüßte, vielleicht um seiner Mutter einen Gefallen zu tun. Doch mit einem solchen Verhalten hatte ich schon gerechnet. Viel mehr beunruhigte mich etwas anderes: Sein ganzes Auftreten hatte sich verändert. Während er sich vorher nervös und angespannt wie ein Gejagter benommen hatte, der sich vor dem Schlimmsten schützen wollte, ließ er sich nun hängen, als sei ihm völlig egal, ob und wann ihn das Unheil treffen würde. Während Mrs. Ayres, Caroline und ich im Versuch, die Normalität zu wahren, über lokale Angelegenheiten und den neuesten Klatsch plauderten, saß er die ganze Zeit über in seinem Sessel, starrte uns mit gesenkten Brauen an, sagte aber kein Wort. Nur einmal erhob er sich, und das auch bloß, um sein Glas mit Gin and French nachzufüllen. An der Art, wie er mit den Flaschen hantierte, und an der Menge des eingeschenkten Alkohols konnte ich unschwer ablesen, dass er schon seit einiger Zeit regelmäßig getrunken haben musste.
    Das zu sehen war schrecklich. Kurz darauf kam Betty herein und vermeldete, das Abendessen sei fertig, und in der allgemeinen Bewegung, die darauf folgte, näherte ich mich Caroline und flüsterte ihr zu: »Alles in Ordnung?«
    Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Mutter und ihren Bruder, dann schüttelte sie beinahe unmerklich den Kopf. Wir traten in den Korridor, und sie zog ihren Umhang enger zusammen, um sich vor der Kälte zu schützen, die vom Marmorboden aufzusteigen schien.
    Es war vorgesehen, im Speisezimmer zu essen, und Mrs. Ayres – wahrscheinlich in der Absicht, ihr Versprechen einzulösen und mir ein »richtiges traditionelles Dinner« zu bieten – hatte Betty veranlasst, den Tisch recht aufwendig zu decken. Das chinesische Porzellan harmonierte mit der orientalischen Tapete; das alte Tafelsilber war hervorgeholt worden. Die Ormoulu-Kandelaber brannten, und die Kerzenflammen neigten sich beängstigend im Windzug, der durch die Fenster hereindrang. Caroline und ich saßen einander gegenüber an der Langseite des Tisches, während Mrs. Ayres den Platz am Fußende einnahm. Roderick ging ans Kopfende, auf den Platz des Hausherrn, den früher wahrscheinlich immer sein Vater eingenommen hatte. Kaum hatte er sich hingesetzt, goss er sich schon ein Glas Wein ein, und als Betty die Weinflasche ans andere

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