Der Beutegaenger
ich wegkomme, an der erstbesten Haustür klingeln und die Polizei rufen. Aber tut Frau Reisinger das?« Sie stand auf und tippte mit ihrem Kugelschreiber auf den Stadtplan, der an der Wand hing. »Nein, sie läuft mit ihren achtundsiebzig Jahren quer über diesen Platz, überquert diese Straße, geht anschließend rund einhundert Meter weit bis zu dieser Kreuzung und von dort weiter zu dieser Seitenstraße, in der ihre Wohnung liegt. Und das alles – wohlgemerkt –, nachdem sie gerade einen Mord beobachtet hat.« Sie hielt einen Augenblick inne, um ihren Kollegen die Möglichkeit eines Kommentars zu geben, doch die Männer schwiegen, und sie spürte, dass sie sie am Haken hatte. Sie hörten ihr tatsächlich zu! »Frau Reisinger erreicht ihre Wohnung auch tatsächlich unbeschadet«, fuhr sie ermutigt fort. »Aber selbst dort ruft sie nicht die Polizei oder wenigstens eine Freundin an, um ihr von ihrer Beobachtung zu erzählen. Nein, sie macht sich in aller Seelenruhe eine Tasse Kakao, um anschließenddemselben Mann eigenhändig die Tür zu öffnen, den sie soeben beim Morden beobachtet hat.« Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl und warf ihren Kugelschreiber mitten auf den Tisch. »Erklären Sie mir das!«
Wie auf ein geheimes Kommando hin standen alle auf. Standen um den Konferenztisch herum, auf dem die Fotos der toten Frauen lagen. Sprachen. Mutmaßten. Jeder sah in eine andere Richtung.
Nach einer Weile ergriff Verhoeven das Wort. »Dafür gibt es nur zwei Erklärungsmöglichkeiten«, sagte er. »Entweder wir irren uns und Frau Reisinger hat an der Alten Stiege überhaupt nichts gesehen, was natürlich bedeuten würde, dass damit auch unser Motiv für diesen Mord und die Verbindung zu den beiden anderen Taten hinfällig wäre. Oder aber . . . « Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Oder aber sie war sich der Bedeutung dessen, was sie beobachtet hatte, nicht bewusst.«
Winnie Heller, die sich stillschweigend wieder auf ihren Platz gesetzt hatte, blickte ihn an. »Sie meinen, Frau Reisinger hat etwas gesehen, das nicht unmittelbar mit dem Mord an Tamara Borg zu tun hatte?«
»Etwas, das zwar nicht direkt mit dem Mord zu tun hatte, aber vielleicht einen Hinweis auf den Täter liefern würde«, nickte Verhoeven. »Etwas, das für sich allein genommen bedeutungslos ist, aber im Kontext eines Mordes möglicherweise in einem ganz anderen Licht erscheint. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mord an Tamara Borg zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht entdeckt war.«
»Und was sollte das gewesen sein?«, fragte Hinnrichs mit einer Miene, die erhebliche Zweifel ausdrückte.
»Eine blonde Langhaarperücke«, sagte Lübke und beförderte den Rest seines Apfels mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb.
weiß
der Tod
mit tausend Ratten
kommt er still
aus den Fluten steigen sie
unzählig
und nagen
was blieb
von Haar und Geäst
Donnerstag, 16. November 2006
»Was hat diese verdammte Scheiße zu bedeuten?« Hinnrichs knallte eine Ausgabe des Kurier auf Verhoevens Schreibtisch und wartete auf eine Reaktion.
»Sieht aus wie die Zeitung von heute«, entgegnete Verhoeven ruhig. Natürlich wusste er genau, worauf sein Vorgesetzter hinauswollte. Aber er hatte keine Lust, ihm auf halbem Weg entgegenzugehen.
»Sie haben es also gelesen?«
»Ja.«
»Fantastisch, dann können Sie mir ja vielleicht auch erklären, wie dieser«, er warf einen Blick in die Zeitung, »wie dieser Klaus Brauner . . . « Irritiert blickte er Verhoeven an. »Heißt der Kerl wirklich so, oder ist das ein verdammter Deckname?«
Verhoeven zuckte mit den Schultern.
»Wie jedenfalls dieser Klaus Brauner auf die Idee kommt, dass wir einen Serienkiller suchen! Und woher weiß dieser Kerl von der Chrysantheme?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Verhoeven wahrheitsgemäß, wohl wissend, dass sein Vorgesetzter diese Sparsamkeit seiner Reaktion falsch auslegen würde. Als defensiv. Im schlimmsten Fall sogar als unbeteiligt.
»Wir waren uns doch wohl einig, dass wir jede Form von Panikmache vermeiden wollten«, polterte Hinnrichs weiter. »Aber nachdem das jetzt raus ist, wird der Teufel los sein.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete Verhoeven. »Und ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, wie dieser Kerl an seine Informationen gekommen ist. Fest steht, dass er sich seit dem Mord an Tamara Borg in der Gegend der AltenStiege herumtreibt und jede Menge Fragen stellt. Und dadurch
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