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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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letzte Küche nie betreten hatte, konnte Alois Breidstettner hier ihre Gegenwart spüren. Alles an diesem Raum war ihm so lieb und vertraut wie das Gluckern und Zischen der alten Kaffeemaschine, die schon wieder lief, um Nachschub zu produzieren, den er eigentlich gar nicht trinken durfte.
    Im Radio spielten die Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm die Neunte Sinfonie von Beethoven, doch Alois Breidstettner nahm die Musik nur am Rande wahr. Bereits zum zweiten Mal las er den Artikel. Aufmerksam studierte er jedes Wort.
    Eine Chrysantheme. Mohnsamen ...
    Vor seinem inneren Auge erstanden Bilder. Gesprächsfetzenjagten durch seinen Kopf, mischten sich mit Beethoven und hallten von den Küchenwänden wider. Ein aufgebrachter Mann vor seinem Schreibtisch. Ein Vater, dem er nie zuvor begegnet ist, weil er der Vater eines Mädchens ist, das er nicht kennt und nie unterrichtet hat. Ein Briefbogen von eigenartiger Farbe. Und vor dem Fenster ein Garten, in dem die Rosen beinahe verblüht sind.
    Sehen Sie sich das an!
    Eine Frau mit dunklen Haaren auf einer Couch. Von ihren Handgelenken tropft Blut herab. War das nicht eine Zeichnung gewesen? Ein Bild?
    Er hat diesen Dreck mit Blut geschrieben.
    Der fremde Vater ist aufgebracht.
    Nicht mit meiner Tochter!
    Er hält ein Foto in der Hand. Ein schönes junges Mädchen mit blondem Haar und großen, eigenwilligen Augen.
    Sehen Sie sie an, verdammt noch mal. Sie geht nicht mehr aus dem Haus. Sie trifft keine Freundinnen. Sie lebt wie eine Gefangene. Tun Sie etwas dagegen!
    Der Mann sieht ihn an. Sieht ihm direkt in die Augen, als wolle er ihn ganz persönlich zur Verantwortung ziehen für das, was auf ihm und seiner Familie lastet.
    Irgendjemand muss etwas unternehmen .
    Alois Breidstettner nickte gedankenverloren vor sich hin, während die Überschriften der Zeitung unter seinen Augen zu schwarzweißen Klecksen verschwammen. Ein fremdes, eigenwilliges Mädchen. Vor dem Fenster der verblühende Garten. Und wenig später ein Gespräch mit einem anderen Vater. Auch vor dem Schreibtisch. Auch im September.
    Erfand seine Mutter auf der Couch. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Von Anfang an nicht. Und eines Tages muss sie wohl . . .
    Die Augen des Manns sind genauso müde wie die des unbekannten Vaters, der ihm den Briefbogen dagelassen hat. Aberdiesen Vater kennt er. Professor Martin, Neuere Deutsche Geschichte. Er hat schon vorher ein paar Mal mit ihm gesprochen. Vor diesem Tag im September. Sein Sohn ist hochbegabt. Jede Arbeit eine Eins.
    Haben Sie den Titel gesehen ? Der erste Vater starrt ihn an.
    Oh ja, er hat den Titel gesehen. Er steht ganz oben auf dem Briefbogen. Requiem für eine Freundin. Vielleicht meint er ja doch seine Mutter, nur seine Mutter, unternimmt er einen neuen, halbherzigen Versuch, den aufgebrachten Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches zu beschwichtigen.
    Er verarbeitet das eben auf seine Weise.
    Mit Bildern. Mit Worten.
    Die Stimmen in seinem Kopf gerieten durcheinander. Dahinter schimmerte wie ein Rettungsanker der erhabene dritte Satz von Beethovens Neunter.
    Nur Fiktion.
    Lediglich eine Phase.
    Vielleicht sollte er einen von diesen Tests machen . . .
    Alois Breidstettner schob seine Kaffeetasse von sich und griff nach dem Stock, der an der Tischkante lehnte. Seit Jahren litt er an der parkinsonschen Krankheit. Alles in allem kam er noch recht gut allein zurecht, aber nach dem Aufstehen dauerte es immer eine Weile, bis die Medikamente ihre Wirkung entfalteten. Am besten ging es ihm am frühen Nachmittag. Aber so lange konnte er nicht warten. Nicht heute. Er musste sich Gewissheit verschaffen, obwohl er eigentlich längst sicher war. Es konnte unmöglich ein Zufall sein!
    Quälend langsam arbeitete er sich mit seinem Stock voran, durch den Flur, hinüber ins Wohnzimmer. An den Wänden standen Regale, die bis zur Decke reichten. Bücher. Schubladen. Er brauchte nicht zu suchen. Er hatte in den vergangenen sechsundzwanzig Jahren immer gewusst, wo sie sich befanden. Warum, konnte er nicht sagen. Er hatte es einfachgewusst. Vielleicht hatte er sie im Auge behalten wollen, obwohl er sie hätte wegwerfen können, denn die Martins waren ja fortgezogen, bald danach. Nach den Gesprächen, die ihn so sehr beunruhigt hatten, dass sie ihm noch Jahre danach in seinen Träumen begegnet waren. Raphael Martin war mit seinem Vater nach Hamburg gezogen, und das fremde junge Mädchen mit den eigenwilligen Augen hatte wieder aus dem Haus gehen können. Oder etwa

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