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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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abgeschlossen! Schließlich war es heute viel später als sonst. Niemalszuvor war sie zu so später Stunde an dieser Tür gewesen. Und dann? Sie schluckte. Was dann? Was, wenn die Tür verschlossen ist, wenn sie sich nicht öffnen lässt? Sie drehte sich um. Die Tür dort oben war doch von allein ins Schloss gefallen, oder etwa nicht? Oder hatte jemand sie hinter sich zugezogen? Jemand, der ganz genau wusste, dass sie hier unten vor einer verschlossenen Stahltür stand. Jemand, der in diesem Augenblick langsam die Treppe herabkam, Stufe um Stufe, herunter zu ihr. Sie hielt den Atem an und lauschte. Eine der Lampen über ihrem Kopf summte. Weiter war nichts zu hören. Ihr Blick suchte die Wände über sich nach einem Schatten ab, einer leisen Bewegung, die ihr verriet, dass sie nicht mehr allein war. Doch da war nichts. Nichts als Stille. Oder? Sie hörte das Rauschen ihres eigenen Bluts. Es schwoll an, je länger sie darauf hörte, wurde sekündlich intensiver und lauter. Hatte die Tür dort oben nicht viel zu lange gebraucht, um ins Schloss zu fallen? Musste da nicht doch noch jemand sein? Über ihr? Außer ihr? Die Putzfrauen fielen ihr ein, aber Putzfrauen waren nicht leise. Putzfrauen klapperten mit Eimern und Schrubbern und unterhielten sich dabei lautstark über irgendwelche Kerle mit unaussprechlichen Namen. Auf keinen Fall kam eine Putzfrau die Treppe herunter, ohne irgendein Geräusch zu machen.
    Zögernd drehte sie sich wieder zur Tür um und starrte auf die nackte schwarze Klinke. Es gab keine Alternative, keinen Keller, in den sie flüchten konnte, keinen Ausweg. Nur diese Stahltür. Ihre Hand tastete nach der Klinke. Wag es! Es gibt keine Alternative. Entschlossen drückte sie die Klinke nieder, und die Tür öffnete sich in die Dunkelheit.
    Mit einem Seufzer der Erleichterung trat Anna-Lena Kluger in die finstere Kälte hinaus. Der Parkplatz vor dem Gebäude war von hier aus nicht einzusehen, aber sie hoffte inständig, dass Niedhardts Wagen noch immer dort stand. Undwarum sollte er das nicht? Er konnte es unmöglich wissen. Wissen, dass sie hier war. Sie hatte genau aufgepasst. Ganz genau aufgepasst.
    Dennoch sah sie sich noch einmal in alle Richtungen um, bevor sie sich auf den Weg machte. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass ihr bis zur Abfahrt des Busses noch rund eine Viertelstunde Zeit blieb, lange genug, um das Werksgelände im Schatten der hohen Mauern zu umrunden und sich dem Wartehäuschen ungesehen von der anderen Seite zu nähern. Von der ungefährlichen, der sicheren Seite ...
     
     
     
    »Was machen Sie heute Abend noch?« Winnie Heller blickte von ihrer Kopie der Gedichte hoch, direkt in die wasserblauen Augen von Hermann-Joseph Lübke, die so hell waren, dass man glaubte, hindurchsehen zu können. Was sollte das werden? Ein Flirtversuch? Der Gedanke kam ihr vollkommen absurd vor. Wahrscheinlich wollte er sie bitten, sie in sein Labor zu begleiten, um eine Probe ihres Haars zu nehmen, die er in ein Glas mit Formalin stecken konnte. Für seine Sammlung besonders missglückter Tönungsversuche. Oder noch schlimmer: Er hatte von ihrer Auseinandersetzung mit Verhoeven gehört und wollte sie aufmuntern. »Arbeiten«, entgegnete sie kühl. »Warum?«
    »Meine Güte, Mädchen«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Sie müssen auch mal abschalten. Sogar Ihr Boss tut das hin und wieder.«
    Winnie Heller sah auf die Uhr. Es war wenige Minuten nach neun. Verhoeven war vor einer Viertelstunde nach Hause gefahren und hatte ihr im Fortgehen geraten, dasselbe zu tun. Sie dachte an das Foto in seinem Portemonnaie, an daswinkende Kind im Rückspiegel, an die elegante Frau mit den silberblonden Haaren, und fühlte, wie urplötzlich der alte Neid wieder über sie hereinbrach. Neid auf das Zuhause, das sie nicht hatte. Einen Menschen, der auf einen wartete, der zuhörte. Der wirklich und wahrhaftig antwortete , wenn man ihm etwas erzählte.
    »Sie spielen nicht zufällig Poker?«, riss Lübke sie aus ihren Gedanken.
    »Ziemlich schlecht«, entgegnete sie. »Warum?«
    »Na ja, wir gehen gleich noch mit ein paar Kollegen ins Luigi’s . . . «
    Luigi’s! Bei Gott, das war zweifellos das Glöcklein, das ihr Kinnwasser zum Triefen brachte, und es hatte Zeiten gegeben, in denen sie sich für ein solches Angebot bedenkenlos beide Hände hätte abhacken lassen. Ins Luigi’s gingen die Macher. Die angesagten Bullen. Wer zu dieser illustren Gesellschaft gehörte, war mittendrin im Zentrum der

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