Der Beutegaenger
er ans Fenster und stellte verwundert fest, dass es tatsächlich zu schneien begonnen hatte. Feine, körnige Flocken, die aus dem schwarzen Himmel rieselten und die wenig befahrene Anwohnerstraße unter einem zarten weißen Schleier verschwinden ließen. Er blickte sich nach seiner Frau um, die sich auf die andere Seite gedreht hatte, und ging wieder ins Bad hinüber. Er drehte das Wasser auf und stellte sich erneut unter die Dusche, wobei er an einen seiner Schulfreunde dachte, bei dem er hin und wieder übernachtet hatte. Die Eltern hatten damals gerade ein Haus gekauft. Duschen war nur an den Wochenenden erlaubt gewesen. Und selbst dann nur ganz kurz. Ich darf niemals vergessen, wie privilegiert ich bin, dachte er, während das heiße Wasser über seinen Körper rann und einen Teil der Erschöpfung aus seinem Kopf sog. Wirklich und wahrhaftig privilegiert.
Er konnte nicht ahnen, dass sich im selben Augenblick nur etwa dreißig Kilometer von ihm entfernt der Mann, nach dem sie so verzweifelt suchten, über die Leiche von Anna- Lena Kluger beugte.
Dienstag, 21. November 2006
Der Morgen des einundzwanzigsten November dämmerte stürmisch und wolkenreich herauf, und Winnie Heller wusste, dass es ein schwieriger Tag werden würde. Sie tastete nach dem Wecker auf ihrem Nachttisch und drückte die Taste zur Beleuchtung des Zifferblatts. Es war sieben Minuten nach sechs, was bedeutete, dass sie gerade einmal vier Stunden geschlafen hatte.
In ihrem Apartment war es um diese Uhrzeit noch eiskalt.
Sie wusste, dass die Hausverwaltung die Heizung erst in einer knappen Stunde einschalten würde. Trotzdem erschien ihr die Aussicht auf eine heiße Dusche und eine noch heißere Tasse Kaffee weitaus verlockender als die Möglichkeit, eine weitere halbe oder gar Dreiviertelstunde im Bett zu bleiben. Sie hatte lange mit sich gekämpft und war dann schließlich doch ins Luigi’s gefahren. Lübke hatte sein diabolisches Jack-Nicholson-Lächeln gelächelt, aber keine Fragen gestellt und ihr stattdessen ungefragt ein Glas Bier hingeschoben. Dann hatten sie bis kurz nach eins gepokert, ein netter, unverfänglicher Abend unter Kollegen. Sie war nach Hause gefahren, hatte sich in ihren Büroklamotten ins Bett gelegt und einen entsetzlichen Albtraum gehabt, in den sie auf keinen Fall zurückkehren wollte.
Wie alle Albträume hatte er ganz harmlos begonnen: Sie war auf einer Wanderung gewesen, eine endlose graue Steilküste entlang. Tief unter ihr waren die Wellen gegen die Felsen geschlagen, und die Luft hatte rau und salzig geschmeckt. Doch dann war plötzlich ein dichter Nebel vom Meer heraufgezogen. Sie hatte beschlossen umzukehren und war den gleichenWeg zurückgegangen, den sie soeben gekommen war, doch der Weg hatte sie nicht in das beschauliche Küstendorf zurückgeführt, von dem aus sie ihre Wanderung begonnen hatte, sondern war in einen Deich übergegangen, der immer weiter ins Meer hineinlief. Abermals war sie umgekehrt, doch wohin sie sich auch gewendet hatte, der Weg hatte stets hinaus auf die offene See geführt. Irgendwann hatte sie sich auf den Deich gesetzt, um zu warten, bis jemand nach ihr suchen kam. Aber es war niemand gekommen. Die Nacht war hereingebrochen, und die Flut hatte das Wasser unerbittlich steigen lassen. Sie hatte zugesehen, wie die Wellen höher und höher geschlagen waren. Aber im selben Moment, in dem das Wasser ihre Füße erreicht hatte, war sie aufgewacht ...
Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett und tappte barfuß ins Bad hinüber. Dr. Zilcher würde sich glatt in die Hose pissen vor Vergnügen, einen solchen Traum analysieren zu können, dachte sie und drehte das Wasser auf. Dann hielt sie ihr Gesicht unter den lauwarmen Strahl, bis sie das Gefühl hatte, dem Tag gewachsen zu sein, nahm ihr Haar zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen und klaubte ein paar klägliche Lebensmittelreste aus ihrem Kühlschrank. Gewürzgurken und Dosenmakrelen zum Frühstück, dachte sie, als ob ich schwanger wäre! Apropos schwanger: Sie nahm das Gurkenglas von der Theke und ging zu ihrem Aquarium hinüber, in dem ihre Mitbewohner bereits putzmunter waren. Es kommt alles zu kurz, dachte sie, indem ihre Augen das Pflanzendickicht nach Walther-Waltraud absuchten. Die Fische kommen zu kurz, und Elli. Und ... »Morgen, John«, sagte sie, als der werdende Vater nach vorn an die Scheibe kam. »Na, wie sieht’s aus? Schon arg nervös? ... Ja, sicher ist das eine Riesenverantwortung. Das kann ich mir
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