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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Bus fuhr, und wartete nun sicher zuversichtlich auf eine Gelegenheit, sie nach Hause fahren zu können. Der Himmel wusste, wo er gerade jetzt, in diesem Augenblick, auf der Lauer lag, um sie abzufangen. Der Gedanke, ihm in einem fast leeren Gebäude noch einmal in die Arme zu laufen, ließ sie frösteln. Es war nicht nur seine Aufdringlichkeit. Er hatte irgendetwas an sich, das ihr Angst machte, ohne dass sie hätte sagen können, was es war, denn eigentlich tat er ja gar nichts. Er war immer freundlich. Er hielt ihr stets die Türen auf. Und er war immer in ihrer Nähe.
    Anna-Lena Kluger sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor neun. Ihr Chef hatte ihr angeboten, sich auf Firmenkosten einTaxi in die Stadt zu nehmen, doch sie hatte abgelehnt, weil sie den letzten Bus um 21 Uhr 24 noch bequem erreichen konnte. Sie fuhr den Rechner herunter und schaltete den Drucker aus. Ihr Vater hatte ihr angeboten, sie abzuholen, falls sie den letzten Bus verpasste, aber sie freute sich, dass sie von diesem Angebot keinen Gebrauch machen musste. Sie bereitete nicht gern Umstände. Außerdem hatte auch ihr Vater einen harten Arbeitstag hinter sich, und der schwarze Himmel über den nahen Feldern sah irgendwie nach Schnee aus. Vielleicht würde es ihn tatsächlich geben, diesen Wintereinbruch, den sie angekündigt hatten, auch wenn eigentlich niemand ernsthaft damit rechnete.
    Wenn ich nur wüsste, wo Niedhardt steckt, dachte sie ärgerlich. Wahrscheinlich lauerte er unten beim Hauptausgang. Von dort waren es kaum mehr als hundert Meter bis zu dem zugigen Schutzhäuschen, in dem man auf den meist verspäteten Bus warten sollte, wenn es nach den Verkehrsbetrieben ging. Sie kramte die Monatskarte aus der Tasche, stopfte ihre Geldbörse in ihren Rucksack und zog den Reißverschluss zu. Und wenn sie nun in ihrem Büro das Licht brennen ließ und den hinteren Seitenausgang nahm? Dann musste sie zwar das ganze Werksgelände umrunden, um zur Haltestelle zu gelangen, aber dazu hatte sie ja noch genügend Zeit. Vielleicht würde Niedhardt auf diese Weise gar nicht bemerken, dass sie ihren Bus noch erreicht hatte. Vielleicht würde er annehmen, dass sie noch immer mit den Aufstellungen beschäftigt war. Die Vorstellung, dass sich der verhasste Kollege die halbe Nacht irgendwo in den verlassenen Fluren herumdrückte, während sie längst zu Hause vor dem Fernseher saß, ließ sie schmunzeln. Schnell schlüpfte sie in ihre Daunenjacke und ging zur Tür. Irgendwie rechnete sie fast damit, auf der anderen Seite Niedhardts Lächeln vorzufinden, doch der Flur vor ihrem Büro war verwaist und alle Türen geschlossen.Glück gehabt, dachte sie, während die Erleichterung sich wie eine wärmende Decke um ihren Körper legte. So leise wie möglich zog sie die Tür hinter sich zu und huschte den Gang entlang. Durch eine schwere Brandschutztür gelangte sie in einen anderen Teil des Gebäudes. Nebenan in der Produktion wurde im Schichtdienst gearbeitet. Von dort drangen gedämpfte Maschinengeräusche herüber und gaben ihr das angenehme Gefühl, nicht allein zu sein. Auf den Fluren brannte rund um die Uhr Licht. Selbst hier, in der Verwaltung. Sie erreichte die Tür zum hinteren Treppenhaus und sah sich um. Ein leerer Flur. Blitzsauberes graues Linoleum. Und niemand, der ihr folgte.
    Die Tür war nur angelehnt. Anna-Lena Kluger stieß sie auf und trat in das dahinterliegende Treppenhaus, das keine Fenster hatte. Der schwere Geruch nach Öl und alter Farbe hing in der abgestandenen Luft. Graue Stufen nach oben und unten. An der Wand markierte ein kleines grünes Schild den Fluchtweg im Fall eines Brands. Schnell sah sie sich ein letztes Mal nach der Tür in ihrem Rücken um, dann rannte sie los, die enge Treppenflucht hinunter. Vierter Stock. Dritter Stock. Im Laufen bemerkte sie, dass ihr rechter Schnürsenkel aufgegangen war, doch sie wagte nicht, stehen zu bleiben, um das in Ordnung zu bringen. Sie wollte weg hier. Raus aus dem Treppenhaus. Raus aus der Falle. Zum Bus. Im selben Augenblick fiel irgendwo über ihr eine Tür ins Schloss. Und Anna- Lena Kluger stürzte weiter. Zweiter Stock. Eins. In den Kurven hielt sie sich mit einer Hand am Geländer fest, um nicht zu stolpern. Die Sohlen ihrer Winterschuhe quietschten auf dem kahlen Linoleum. Atemlos erreichte sie das Erdgeschoss, von wo aus eine schwere Stahltür ins Freie führte. Noch sieben Stufen. Sechs. Jetzt nur noch vier. Oh Gott, durchfuhr es sie, hoffentlich ist die verdammte Tür nicht längst

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