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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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gefürchtet hatte? Er sah das Mädchen vor sich im Schnee liegen, die Augen fest geschlossen, als habe sie bis zum Schluss versucht, die bittere Realität des nahenden Todes auszublenden. Ihr Gesicht hatte fast wie auf dem Foto ausgesehen, das die Eltern mit aufs Präsidium gebracht hatten: ruhig und schön. So als habe es nichts mit dem zerstörten Körper zu tun, zu dem es gehörte.
    »Und das Auto war eine dieser Großraumlimousinen, ein Van?«
    Niedhardt leckte sich über die Lippen. Seine hohe Stirn hatte eine ausgeprägte Wölbung, auf der sich ein feiner Schweißfilm gebildet hatte. »Ich verstehe nicht allzu viel von Autos«, entgegnete er, während sein Blick unstet hin und her wanderte. »Außerdem habe ich den Wagen ja nur von hinten gesehen, und von hinten sehen sie doch alle ziemlich gleich aus, nicht wahr?«
    »Dunkelblau oder dunkelgrün sagten Sie?«
    Er zuckte mit den Schultern und sah zum Fenster hinaus. Der Schnee war endgültig in Regen übergegangen. Die Welt präsentierte sich wieder grau in grau. Die Wärme des Zimmers setzte sich in feinen Tröpfchen auf den Fensterscheiben ab. »Dunkel auf jeden Fall«, antwortete er. »Aber die Haltestelle ist nicht beleuchtet. Da ist es auf die Entfernung unmöglich, eine Farbe zu erkennen.« Er überlegte einen Moment. Dann fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube eigentlich nicht, dass der Wagen schwarz war. Schwarz wirkt irgendwie anders im Dunkeln.«
    Verhoeven nickte. Er wusste, was der andere meinte. »Und das Mädchen stieg freiwillig in den Wagen ein?«
    »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« Niedhardt öffnete den obersten Knopf seines Hemds. Seine Finger waren lang und hatten breite, trapezförmige Kuppen. »Ich kam ja aus dem Hauptausgang. Die Haltestelle ist etwa hundert Meter weiter die Straße rauf. Ich habe das Auto anhalten sehen. Es kam aus derselben Richtung wie der Bus und fuhr ganz dicht an das Wartehäuschen heran. Mehr konnte ich nicht erkennen.«
    »Es wäre also durchaus möglich, dass das Mädchen gewaltsam in das Auto gezerrt worden ist?«, hakte Verhoeven nach. »Was ich meine, ist: Hätten Sie zwangsläufig bemerkt, wenn der Fahrer ausgestiegen wäre?«
    »Nicht unbedingt«, gab Niedhardt zu.
    »Und anschließend wendete der Wagen und fuhr in dieselbe Richtung davon, aus der er gekommen war?«
    Er nickte.
    »Hat diese Tatsache Sie nicht gewundert?«
    »Sicher«, antwortete Niedhardt ohne Zögern. »Ich hatte ja angenommen, dass der Fahrer Anna-Lena angeboten hat, sie mit in die Stadt zu nehmen. Und da fand ich es dann schon ziemlich eigenartig, dass der Wagen in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Zumal . . .« Er stutzte und leckte sich wieder über die Lippen. »Zumal ich mir eingebildet hatte, dass das Kennzeichen nicht von hier war.«
    Verhoeven blickte auf. »Sondern?«
    »Nun ja, ich bildete mir ein, dass der Wagen ein Dortmunder Kennzeichen hatte.«
     
     
     
    Marianne Siemssen zwang sich, die Fotos, die vor ihr auf dem Tisch lagen, anzusehen. Sie fragte sich, ob man an ihrem Gesicht ablesen konnte, was sie fühlte. Aber wahrscheinlich konnte man das nicht. Das Bemühen um äußerliche Ungerührtheit bestimmte ihr Leben seit damals. Sich niemals verraten, keine Rückschlüsse zulassen auf Gedanken oder Gefühle, das Einzige, was sie für sich hatte: Gedanken und Gefühle.
    Und vorher? War es da anders gewesen? Hatte sie sich jemals unmittelbar geäußert, ohne Angst, in ihrem Innersten erkannt zu werden? Sie wusste es nicht mehr. Sechsundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit. Zu lange, um sich daran zu erinnern, wie es vorher war. Und vielleicht war es auch zu gefährlich. Ihr Blick blieb an Tamara Borgs Gesicht hängen. Eine Großaufnahme der Verwüstung.
    Sehen Sie sich das an!
    Die Kommissarin hatte Fotos der toten Frauen vor sie auf den Tisch geknallt.
    Sehen Sie sich das an! Sehen Sie genau hin!
    Das tat sie und wunderte sich, dass sie es konnte. Wann immer sie sich in den vergangenen sechsundzwanzig Jahren die eine, die schlimmstmögliche Situation vorgestellt hatte, die größte denkbare Katastrophe, war sie zu der Überzeugung gelangt, nicht damit fertig zu werden. Eine Situation, in der die eigenen Albträume Realität wurden, war ihr untragbar erschienen. Unerträglich. War es das nun? War es unerträglich?
    Sie spürte die Blicke der Kommissarin, die ihr Gesicht nach einer Reaktion abtasteten und keine fanden.
    Anna-Lena Kluger. Sie konnte sich recht gut an das Mädchen erinnern. Eine

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