Der Beutegaenger
als die Tür hinter Winnie Heller aufging und Verhoeven ins Zimmer trat, und fügte dann mit undurchdringlicher Miene hinzu: »Es klang sehr sicher.«
»Was haben Ihre Eltern unternommen?«, erkundigte sich Winnie Heller, nachdem Verhoeven ihr bedeutet hatte, mit der Befragung fortzufahren.
»Sie sprachen mit Raphaels Vater«, entgegnete Marianne Siemssen lakonisch. »Professor Martin war ein sehr netter Mann. Sein Sohn hörte ihm nicht einmal zu. Als sich nichts änderte, ging mein Vater zu Raphaels Klassenlehrer.«
Alois Breidstettner, ergänzte Winnie Heller in Gedanken. Sie hatte vorhin noch einmal mit dem Krankenhaus telefoniert. Breidstettner war noch immer nicht aus dem Koma erwacht. Prognose ungewiss. »Warum haben Sie sich nicht an die Polizei gewendet?«
Marianne Siemssen lachte kurz und bitter. »Es ist nicht verboten, jemandem Blumen und Gedichte zu schicken, wissen Sie?«
»Aber diese Sache ging doch weit darüber hinaus«, wandte Winnie Heller ein.
Die andere lächelte. »Vergessen Sie nicht, dass Raphael erst sechzehn gewesen ist. Man tat die Geschichte als pubertäre Schwärmerei ab. Eine Phase, die sich irgendwann von selbst gibt. Hinzu kam, dass Raphael recht klein und schmächtig war. Ich hätte mich also leicht gegen ihn zur Wehr setzen können, wenn er mich angegriffen hätte.«
»Hat er das je getan?«
»Nicht in der Weise, an die Sie denken«, entgegnete Marianne Siemssen, und ein Hauch von Sarkasmus mischte sich in ihr Lächeln.
Winnie Heller musterte die Frau, die ihr gegenübersaß, abschätzig. »Sie konnten nichts gegen diese Belästigungen tun?«, fragte sie mit bewusst ungläubigem Unterton.
Marianne Siemssen sah sie an. Ein undefinierbarer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen und schloss den Mund wieder.
Winnie Heller wartete.
»Vom Leben eines Menschen Besitz zu ergreifen ist nicht ungesetzlich, solange man ihn körperlich nicht erheblich verletzt«, sagte Marianne Siemssen nach einer Weile. »Ich nehme an, Raphael war das, was man heutzutage einen Stalker nennt. Wie Sie wissen, konnte die Polizei gegen solche Leute bislang nicht viel unternehmen, es sei denn, die Opfer bewiesen, dass sie Opfer sind, indem sie sich halb totschlagen ließen.«
»Was ist mit diesen Gedichten?«, mischte sich nun erstmals Verhoeven ein, der sich auf einen Stuhl in der Ecke gesetzt hatte. Sein Gesicht lag fast ganz im Schatten.
»Er schickte sie mit der Post«, erwiderte Marianne Siemssen. Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Mein Vater nahm sie mir noch am selben Abend weg. Ich habe sie niemals wiedergesehen.« Sie machte eine lange Pause. »Eine Woche später verschwand meine Katze.«
»Und wie sind Sie den Kerl schließlich losgeworden?«, fragte Winnie Heller. »Sie sind ihn ja wohl losgeworden, oder?«
Marianne Siemssen nickte. »Tante Louise«, entgegnete sie leise. »Tante Louise kündigte ihnen die Wohnung.«
»Und weiter?«
Wieder zeigte sich jener undefinierbare Ausdruck auf Marianne Siemssens Gesicht. Winnie Heller glaubte, eine Spur von Verachtung darin zu erkennen. »Professor Martin entschloss sich, Düsseldorf zu verlassen. Er nahm eine Stelle in Hamburg an. Keine Professur, irgendeine andere Stelle. Er war ein sehr rücksichtsvoller Mann. Einige Monate vor meinem Abitur hat er mit Raphael die Stadt verlassen.«
»Und mit den beiden verschwanden alle Probleme.« Winnie Heller lächelte. »Wie schön für Sie.«
Marianne Siemssen blickte sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Hatten Sie danach noch einmal Kontakt zu Raphael Martin oder seinem Vater?«
Sie zögerte einen Augenblick. »Nein«, sagte sie dann.
Winnie Heller warf ihr einen prüfenden Blick zu. Kein Gefühl verriet ihr, ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Dennoch ertappte sie sich bei der Annahme, dass Marianne Siemssen gelogen hatte. »Wissen Sie, was aus Raphael geworden ist?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Er hat nie den Versuch gemacht, Sie wiederzusehen oder sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen?«
»Ich habe Düsseldorf gleich nach dem Abitur verlassen«, entgegnete Marianne Siemssen. Sie schien jetzt sehr ruhig. »Ob er sich je gemeldet oder mir geschrieben hat, weiß ich nicht. Meine Eltern hätten jedenfalls den Teufel getan, irgendetwas an mich weiterzuleiten, wie Sie sich denken können.Und außer meinen Eltern wusste niemand, wo ich
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