Der Beutegaenger
hübsche Blondine, die regelmäßig zum Training gekommen war und stets freundlich gegrüßt hatte. Der Kopf lag auf der Seite. Auf den Lidern der geschlossenen Augen lag ein Hauch von Schnee.
Wollen Sie, dass es so weitergeht?
Ratten und nackte Schultern. Die offenen Wunden. War sie daran schuld?
Und das? Kennen Sie das?
Das waren die Gedichte, seine verdammten Gedichte. Sie hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen und genickt. Ja, das kenne ich. Ich kenne es nur zu gut. Der Papierbogen, den die Kommissarin ihr über den Tisch gereicht hatte, war nur eine Kopie, gedruckt auf dünnem weißem Papier, aber es war seine Handschrift. Wie mochte die Polizei an seine Gedichte gekommen sein? Hatte ihr Vater sie denn nicht vernichtet, damals? Verbrannt, so wie er es versprochen hatte? Sie sah wieder das schneeüberhauchte Gesicht Anna-Lena Klugers an, das vor ihr auf dem Tisch lag.
weiß der Tod . . .
Oh ja, sie konnte sich an jedes einzelne Wort erinnern! Seit sechsundzwanzig Jahren hätte sie alles darum gegeben, diese schrecklichen Zeilen vergessen zu können. Aber sie hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Das hatte er gewusst. Darauf hatte er spekuliert. Und er hatte recht behalten. Sie wurde ihn nicht los. Niemals würde sie ihn loswerden. Das immerhin wusste sie jetzt.
Der blinde scharlachrote Mohn schreit blutend über den sturmzerrissenen Feldern meiner Seele ...
Nach welchen Prinzipien funktionierte eigentlich ein Gedächtnis? Warum gelang es so vielen Menschen, zu verdrängen, was ihnen Angst machte? Und warum gelang es ihr nicht? Ausgerechnet ihr? Welchen Nutzen hatte die Angst gehabt, der Verzicht, die Vorsicht? Seine Gedichte hatten sie schließlich und endlich ja doch eingeholt.
. . . aus den Fluten steigen sie unzählig ...
Wenn es mir gelungen wäre, diese Worte zu verdrängen, hätte ich sechsundzwanzig Jahre gehabt. Diese banale Wahrheit drängte sich schlagartig in ihr Bewusstsein.
Sechsundzwanzig Jahre für Einkaufsbummel, Herbstspaziergänge, Gartenarbeit ...
... und nagen was blieb von Haar und Geäst...
Und sechsundzwanzig Jahre Zeit zum Schwimmen.
Sie hob den Blick und sah der Kommissarin auf der anderen Seite des Schreibtisches direkt in die Augen. Sie verachtet mich, weil ich nicht zusammenbreche, dachte sie. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich kann nicht vergessen, was mich quält. Ich kann nicht verdrängen, was mir Angst macht. Und ich scheine nie so zu reagieren, wie man es von mir erwartet. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund musste sie lächeln über diese Erkenntnis. Gegenüber kniff die Kommissarin misstrauisch die Augen zusammen. Schon wieder eine falsche Reaktion. Wie konnte man lächeln in einem Augenblick wiediesem? Sie starrte auf den Daumennagel ihrer rechten Hand. An der Seite war etwas vom Lack abgesplittert. Das würde sie in Ordnung bringen müssen. Nachher. Keine Risse in der Fassade. Keine Schwimmbäder. Keine Katzen. Hatte sie sich die verdammten Fotos nun lange genug angesehen?
»Es war im Frühjahr 1980«, begann sie. Es war an der Zeit, es hinter sich zu bringen. Ihre Stimme klang eigenartig müde, obwohl sie sich hellwach fühlte. Aber die Wachheit drang nicht an die Oberfläche. Nichts drang an die Oberfläche. »Ich war damals gerade achtzehn geworden und lebte mit meinen Eltern in Düsseldorf, wo ich das Gymnasium besuchte. Im Haus nebenan wohnte eine alleinstehende ältere Dame. Ich war oft bei ihr und nannte sie Tante Louise. Sie brachte mir das Kartenspielen bei, und jedes Jahr im Dezember backten wir zusammen Plätzchen.«
Winnie Heller betrachtete sie und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Marianne Siemssen Karten spielte. Bier trank. Spaß hatte. Wie konnte sie sich ihr nähern? War es überhaupt möglich, dieser Frau nahezukommen? Vieles sprach dafür, dass ihre Reserviertheit eine lange eingeübte Verhaltensweise war. Da war es schwer, noch etwas zu bewegen. Oder? Ich muss es auf jeden Fall versuchen, dachte sie. Verhoeven hat mir das zugetraut. Er glaubt an mich. Ich darf das hier auf keinen Fall versauen.
Marianne Siemssen studierte wieder ihre Fingernägel. Die intensive Betrachtung von etwas, das ihr vertraut war, schien ihr zu helfen. »Als Tante Louise älter wurde, entschloss sie sich, nur noch den unteren Teil ihres Hauses zu bewohnen und das Obergeschoss zu vermieten«, fuhr sie fort. Es wunderte sie selbst, wie einfach sich die Worte zu Sätzen fügten. »Dort zog ein verwitweter Geschichtsprofessor ein, der
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