Der Beutegaenger
einen sechzehnjährigen Sohn hatte: Raphael.« Sie hielt erneut inne. Ihre Augen schienen auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtetzu sein. »Es fing ganz harmlos an. Aber diese Dinge entwickeln sich ja immer sehr subtil.«
Winnie Heller fragte sich, was ihre Gesprächspartnerin mit diesen Dingen meinte. Sie hatte sich viel Zeit gelassen. Jetzt sprach sie endlich. Das war ein Erfolg, oder?
»Ich will nicht darüber reden«, war das Erste gewesen, was sie gesagt hatte.
Winnie Heller war aufgefallen, dass sie ich will gesagt hatte, nicht ich möchte . Dabei war sie der Typ Frau, der ich möchte sagte. Normalerweise. »Das sollten Sie aber«, hatte sie geantwortet.
»Warum?«
»Weil sonst noch mehr Menschen sterben werden.« Sie hatte einen Augenblick gezögert, bevor sie hinzugefügt hatte: »Noch mehr Frauen.«
Marianne Siemssen hatte geschwiegen, und Winnie Heller hatte die Fotos der toten Frauen aus der Akte gezogen. Sie wusste, derlei war gegen die Vorschrift. Trotzdem hatte sie nicht widerstehen können. Sie musste alles versuchen. Alle Möglichkeiten ausschöpfen. Sie durfte nicht versagen. Wenn sie das hier hinkriegte, hatte sie vielleicht eine Chance. Eine richtige. Dauerhafte.
Marianne Siemssen hatte einen flüchtigen Blick auf die Fotos geworfen und etwas gesagt, das sie zutiefst erschreckt hatte. »Manche Dinge geschehen einfach, und man kann nichts dagegen tun. Das habe ich schon vor langer Zeit begriffen.«
Doch, hatte etwas tief in ihr widersprochen. Ich kann etwas tun. Darum bin ich zur Polizei gegangen. Um etwas zu tun.
»Ich besuchte Tante Louise fast jeden Tag«, sagte Marianne Siemssen auf der anderen Seite des Tisches. »Immer öfter war Raphael zufällig im Treppenhaus oder im Garten, wenn ich herüberkam. Aber ich dachte mir nichts dabei.«
Winnie Heller sah sich nach dem Spiegel in ihrem Rückenum und fragte sich, wer dort hinter der Scheibe stand. Ob dort jemand stand. Oder ob sie allein waren. Jägerin und Gejagte.
»Ab und an setzte er sich auch zu uns und las uns Gedichte von sich vor«, fuhr Marianne Siemssen mit unbewegter Miene fort. »Lauter düsteres Zeug über schwarze Vögel und kranke Blumen, das wir nicht hören wollten.«
Winnie Heller dachte an etwas, das Verhoeven in einer ihrer Besprechungen geäußert hatte. In der Romantik hätte man für eine Frau wie Marianne Siemssen Klavierstücke geschrieben. Und Gedichte.
»Irgendwann fing er an, mir kleine Geschenke zu machen. Blumen, Süßigkeiten, eine Luftpumpe für mein Fahrrad. Ich wollte diese Dinge nicht annehmen, aber meine Eltern waren der Meinung, ich solle nett sein zu Raphael. Er hatte sehr früh seine Mutter verloren. Und sie dachten wohl, er sei noch ein Kind.« Ein spöttisches Lächeln spielte um Marianne Siemssens Mundwinkel.
Winnie Heller registrierte es mit Verwunderung, und sie erkannte den Vorwurf, der aus diesem Lächeln sprach. Begann die Fassade nun zu bröckeln?
»Raphael konnte von seinem Zimmer aus unser Haus sehen. Jeden Abend stand er dort am Fenster und blickte herüber. Stundenlang. Morgens lehnte er am Gartenzaun, wenn ich zur Schule ging. Und er folgte mir überallhin. Wie ein Schatten.« Sie zögerte nur eine Sekunde. Lange genug, dass Winnie Heller es bemerkte. »Meine Freundinnen zogen mich seinetwegen auf und nannten ihn meinen kleinen Verehrer. Er . . . « Sie unterbrach sich. Sie durfte nicht zu viel verraten. Nur die Fakten. Nichts über die vielen kleinen Begebenheiten am Rande, nichts über die nach und nach ausbleibenden Einladungen, die Bemerkungen, die nicht freundlich geblieben waren, das Getuschel. Und nichts über Schwimmbäder.
Winnie Heller verspürte eine wachsende Ungeduld, abersie vermied es, ihr Gegenüber zu drängen. Stattdessen lehnte sie sich zurück und schlug die Beine übereinander. In der Glaskanne auf dem Beistelltisch wurde der Kaffee kalt. Sie hatte vergessen, Marianne Siemssen etwas anzubieten.
»Eines Tages fragte er mich, ob ich seine Frau werden wolle«, fuhr diese in sachlichem Ton fort. »Natürlich dachte ich, er macht einen Scherz, und fing an zu lachen.« Für einen kurzen Moment verengten sich Marianne Siemssens Augen, und sie blinzelte, als blicke sie ungeschützt direkt in die Sonne. »Ich werde niemals seinen Gesichtsausdruck vergessen. Einen Augenblick lang hatte ich Angst, dass er mich schlagen würde. Aber das tat er nicht. Er sah mich nur mit diesem seltsamen Ausdruck an und sagte, dass ich meine Meinung ändern würde.« Sie hob den Kopf,
Weitere Kostenlose Bücher