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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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war. Ich hielt es für das Beste, alle anderen Kontakte abzubrechen.«
    »Was ist mit dieser Nachbarin?«, warf Winnie Heller ein. »Was ist mit Tante Louise?«
    Marianne Siemssen saß einen Augenblick lang regungslos auf ihrem Stuhl. Sie hielt sich sehr gerade. »Sie starb im Mai 1981.«
    Winnie Heller tauschte einen Blick mit Verhoeven. Seine Augen leuchteten ihr aus dem Schatten entgegen, und sie spürte, dass er genauso elektrisiert war wie sie selbst. »Wie?«
    »Sie stürzte eine Treppe hinunter«, antwortete Marianne Siemssen so sachlich, als verlese sie die Nachrichten.
    »Ein Unfall?«
    »Ja«, entgegnete sie. »Ein Unfall.«
    In Winnie Hellers Rücken begann ein Telefon zu klingeln. Sie ignorierte es und beugte sich über den Tisch, der sie von Marianne Siemssen trennte. »Und warum haben Sie einen Einbruch angezeigt, bei dem nichts gestohlen wurde?«
    Marianne Siemssen lächelte jetzt wieder ihr seltsames Lächeln. »Für Sie ist ein Einbruch ein Einbruch, wenn etwas gestohlen oder doch wenigstens verwüstet wird, nicht wahr? Das ist mit Einbrüchen dasselbe wie mit den Übergriffen eines lästigen Verehrers: Solange kein Blut fließt, war’s nicht der Rede wert, stimmt’s?«
    »Sie machen auf mich keineswegs den Eindruck, als seien Sie leicht aus der Fassung zu bringen«, konterte Winnie Heller unbeeindruckt. »Also klären Sie mich auf: Was an diesem Einbruch hat Sie so erschüttert, dass Sie sich entschlossen, die Polizei einzuschalten?«
    »An meinen Türen sind Schlösser, damit ich bestimmen kann, wer mein Haus betritt«, entgegnete Marianne Siemssen aufreizend gelassen.
    Winnie Heller ließ sie nicht aus den Augen. »Wovor haben Sie Angst?«
    Die Inhaberin des Fitness-Studios setzte eben zu einer Antwort an, als die Tür aufging und Bredeney hereintrat. »Frau Heller, würden Sie bitte kurz herüberkommen? Hier ist ein Anruf für Sie.«
    Winnie Heller wandte ärgerlich den Kopf. »Wer immer es ist, er soll sich später wieder melden. Ich kann jetzt nicht.«
    Bredeney sah sich Hilfe suchend nach Verhoeven um. »Bitte«, sagte er. »Es ist wirklich sehr wichtig.«
    Verhoeven erhob sich von seinem Stuhl. »Ich übernehme unterdessen für Sie.«
    »Ich habe doch gerade gesagt, dass ich im Augenblick nicht kann«, fuhr Winnie Heller Bredeney an, ohne auf Verhoevens Angebot einzugehen. Das hier war ihre Chance. Sie hatte die Siemssen zum Reden gebracht, und sie würde, verdammt noch mal, bestimmt nicht auf der Zielgeraden aussteigen, um anderen die Lorbeeren zu überlassen. »Also noch einmal«, wandte sie sich wieder an Marianne Siemssen. »Was macht Ihnen solche Angst, dass Sie wegen einer Bagatelle die Polizei rufen?«
    Unglücklich trat Bredeney noch einen Schritt näher. »Der Arzt Ihrer Schwester ...«
    Winnie Heller drehte sich um. »Lassen Sie sich die Nummer geben und sagen Sie ihm, dass ich zurückrufe, sobald ich kann.«
    Bredeney biss sich auf die Unterlippe. »Ihre Schwester . . . « Sie wusste es, bevor er es aussprach.
    »Es tut mir leid, aber sie ist heute Vormittag gestorben.«

Zwei Stunden später war Winnie Heller zurück im Präsidium. Sie hatte ihre Schwester angesehen. Angefasst. Hatte ihre noch nicht völlig erkalteten Hände gestreichelt. Zu verstehen versucht, dass sie tatsächlich nicht mehr atmete. Dass sie tatsächlich endgültig gegangen war. Dass sie tatsächlich nie wieder eine Note Mozart spielen würde. Aber es war ihr nicht gelungen. Der Arzt hatte etwas gesagt, von dem sie nur die Hälfte verstanden hatte. Sie hatte ihn angeschrien. Ihm Vorwürfe gemacht. Ihn gar des Mordes bezichtigt. Irgendwann war sie einfach gegangen. Wortlos. Ohne sich noch einmal umzusehen. Hinaus aus dem Zimmer, in dem sie in den letzten Jahren einen so großen Teil ihrer Freizeit verbracht hatte. Hinaus aus dem Heim, dem sie nie ganz getraut hatte. Vorbei an ihren Eltern, die auf dem Flur gewartet hatten. Sie war in ihr Auto gestiegen und losgefahren und hatte sich wie eine armselige Verräterin gefühlt. Sie hatte ihre Schwester verlassen, zumindest kam es ihr so vor, sie zurückgelassen in der Obhut von Menschen, die sie nie verstanden hatten. Die nie an sie geglaubt, sondern von Anfang an nur auf ihren Tod gewartet hatten. Sie hatte Elli im Stich gelassen, ein letztes Mal im Stich. Im Anschluss an diese Erkenntnis fehlte ihr ein Stück Erinnerung. Ganz so wie damals. Auf sieben dürre Jahre folgten sieben noch dürrere. Hieß es nicht so? Oder verwechselte sie da etwas? Sie wusste es nicht.

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