Der Beutegaenger
Sie wusste gar nichts mehr. Irgendwann hatte sie den grauen Mülleimer auf dem Parkplatz des Präsidiums gesehen. Wie sie dort hingekommen war, konnte sie nicht sagen. Aber sie wusste, dass das Präsidium ihre einzige Rettung war. Die einzige Konstante in ihrem Leben. Die einzige Chance, die sie hatte.
Sie fand die Kollegen in Hinnrichs’ Büro, wo sie die jüngsten Entwicklungen des Falls diskutierten. Als sie zur Tür hereintrat, erhob sich Hinnrichs von seinem Stuhl. »Niemand erwartet, dass Sie heute noch ...«
»Meine Schwester ist tot«, fiel sie ihm ins Wort. Warum verstand dieser Scheißkerl nicht, dass sie hierbleiben musste ? Warum wollte er so gottverdammt verständnisvoll sein? »Da hilft es ihr auch nicht mehr, wenn ich einen Fall vernachlässige.«
Ihr Vorgesetzter schien etwas einwenden zu wollen, doch er überlegte es sich anders und nahm wortlos wieder Platz. Bredeney sprang auf und stellte ihr einen Stuhl zurecht. Fürsorglich. Gut gemeint. Sie quittierte seine Bemühungen mit einem kurzen Kopfnicken. »Also, was ist?«, fragte sie. »Haben Sie diesen Raphael ausfindig gemacht?«
Hinnrichs nickte. »Ja, wir haben ihn gefunden.«
»Und?«
»Leider kann er nichts mit unserem Fall zu tun haben«, entgegnete Verhoeven. Er sah aus, als wäre ihm kalt, aber er blickte ihr direkt in die Augen. Etwas, das sie ihm nicht so ohne weiteres zugetraut hätte.
»Dann hat uns die Siemssen also nicht die Wahrheit erzählt?«
»Das ist nicht der Punkt«, sagte Verhoeven. »Raphael Martin ist tot. Er verunglückte, noch bevor er sein Studium abgeschlossen hatte.« Er nahm den Computerausdruck, der vor ihm auf dem Tisch lag, und reichte ihn ihr. »Und zwar am 24. Juli 1988 in Marokko. Die Informationen kamen gerade rein.«
»Hat er dort studiert?«, fragte Winnie Heller, während ihre Gedanken sich verzweifelt an das Blatt Papier in ihrer Hand krallten. Sie hat nicht gelitten , flüsterte unbarmherzig die Stimme des Arztes in ihrem Ohr. Es klang verzerrt. In die Länge gezogen. Wie ein Tonband, das man zu langsam abspulte. Glauben Sie mir, es ist besser so. Wenn es uns gelungen wäre, sie noch einmal zu stabilisieren ... Es ist besser so . . . Das wäre nicht wünschenswert gewesen ... Nicht wünschenswert... Konzentrier dich, Winnie Heller, dachte sie verzweifelt.Sei ein Profi! Sie hob den Kopf. »Hat Raphael Martin in Afrika studiert?«, fragte sie noch einmal, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, ob sie diese Frage bereits gestellt hatte.
»Nein, in Hamburg«, antwortete Hinnrichs. »Er hat dort sein Abitur gemacht und nach dem Wehrdienst ein Germanistik-Studium begonnen. In den Semesterferien ging er auf Reisen: USA, Indien, Japan. Ende Juni 1988 flog er mit einem Freund nach Algier. Von dort aus wollten die beiden mit dem Rucksack quer durch Nordafrika trampen. Am 22. Juli brachen sie rund fünfzig Kilometer südöstlich von Marrakesch zu einer mehrtägigen Bergtour auf, während der Raphael in eine Felsspalte stürzte. Das Gelände war unwegsam. Sein Freund brauchte zwei Tage, um Hilfe zu holen.«
»Raphael Martin konnte jedoch nur noch tot geborgen werden«, ergänzte Verhoeven. »Es gab eine Untersuchung, und die marokkanische Polizei informierte die deutschen Behörden.« Er lehnte sich zurück. »Wir haben die Akte angefordert, aber wie es scheint, besteht nicht der geringste Zweifel, dass er damals tatsächlich ums Leben gekommen ist.«
»Was ist mit seinem Vater?«, fragte Winnie Heller. Sie musste am Ball bleiben. Die Stimmen zum Schweigen bringen. Die anderen. Die Stimmen in ihrem Kopf, die ihr Dinge sagten, die sie nicht hören wollte. Nicht wünschenswert ...
»Der war zu diesem Zeitpunkt bereits tot.«
»Scheint ja alles andere als bekömmlich zu sein, diesen Raphael zu kennen«, bemerkte Bredeney mit einem freudlosen Lachen.
»Mit dem Tod seines Vaters kann er nichts zu tun haben«, winkte Hinnrichs ab. »Unsere Anfrage hat ergeben, dass Professor Martin im Sommer 1984 bei einem Autounfall ums Leben kam. Sein Sohn hatte gerade das Abitur bestanden und befand sich in Südfrankreich, als es passierte.«
Winnie Heller massierte ihr rechtes Ohr, das sich heiß anfühlte. »Raphael war also Vollwaise, als er starb.« Verhoeven nickte.
»Aber irgendetwas muss die Geschichte von damals mit unseren Fällen zu tun haben«, beharrte sie. »Auch wenn Raphael Martin tot ist, sind es seine Gedichte. Geschrieben für eine Frau, die ein Fitness-Studio besitzt, in dem alle drei Opfer trainiert
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