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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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zu gehen. Vor fast drei Stunden ... Er nahm seine Brille ab und rieb sich die trockenen Augenwinkel. Wo steckte sie wieder? Was trieb sie?
    Drüben in der Küche stand eine Portion Gemüselasagne für sie. Die ließ sich gut wärmen. Er war vor einiger Zeit dazu übergegangen, um achtzehn Uhr mit Amelie zu Abend zu essen, unabhängig davon, ob seine Frau zu Hause war oder nicht. Susanne schien darüber irgendwie erleichtert zu sein, was ihn wunderte, weil er es nicht verstand. Aber genau das war wohl das Problem. Er verstand einfach nicht, was seine Frau bewegte. Bislang hatte er immer geglaubt, dass es eines Tages besser würde. Dass die Kluft, die sie trennte, zu überbrücken sei. Aber mittlerweile war er sich nicht mehr so sicher. Mechanisch stand er auf und setzte den Plüschhund in das Regal zu den anderen Stofftieren. Früher, wenn er mit dem Essen auf Susanne gewartet hatte, hatte sie oft aggressiv reagiert und manchmal, nach einem heftigen Wortwechsel, sogar ganz auf die Mahlzeit verzichtet. Aber seit er nach seinem eigenen Rhythmus lebte, gab es weniger Streit. Erstaunlicherweise schien Susanne sich in letzter Zeit sogar zu bemühen, häufiger zum Essen zu Hause zu sein.
    Er blickte zum Fenster hinüber. Draußen war es bereits vollkommen dunkel. In der Fensterscheibe spiegelte sich Amelies Bettchen und das Rabenmobile, das über dem Kopfende angebracht war. Gernot hatte die Bastelanleitung dafür in einer Elternzeitschrift entdeckt, irgendwann, als Amelie und er wieder einmal im Wartezimmer des Kinderarztes gesessen und ein paar Stunden auf eine lächerliche Spritze gewartet hatten. Es hatte ihm so gut gefallen, dass er gleich am nächsten Tag zu einem Zeitschriftenladen gegangen war und das Heft gekauft hatte. Die acht Raben waren aus buntem Filzgeklebt, jeder in einer anderen Farbe. Alle hatten große rote Schnäbel und hingen paarweise an zierlichen Drahtbügeln. Da sie so leicht waren, genügte der kleinste Luftzug, um sie zu bewegen. Auch jetzt hingen sie nicht einfach still von ihren Bügeln herab, sondern schwangen sachte hin und her. Gernot Leistner betrachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und fragte sich, wie er Amelie hatte erklären können, dass es Raben waren, wo doch kein Einziger von ihnen schwarz war. Wie sollte das Kind auf diese Weise ein vernünftiges Verhältnis zur Natur entwickeln? Er seufzte. Früher oder später würde er mit ihr darüber sprechen müssen.
     
     
     
    »Natürlich bin ich jetzt erst mal wieder der Frischling und muss die Drecksarbeit machen und all das, aber bei Paul Cartier kommst du als Frau ja auch nicht viel weiter als bis in sein Bett.« Winnie Heller lehnte neben dem wuchtigen Heizkörper an der Wand und blickte aus dem zweiflügeligen Fenster in den gepflegten Innenhof hinunter. Die Wolken, die seit Tagen wie ein undurchdringlicher Schleier über der Stadt gelegen hatten, waren abgezogen. Ungehindert schien nun der Mond vom Himmel und erfüllte den Abend mit einer eigentümlichen Helligkeit. »Ich sage dir, dieser Mann ist der reinste Deckhengst, und wenn du da nicht mitziehst. ..« Sie ließ den Satz offen und kehrte langsam zum Bett ihrer Schwester zurück. »Glaub mir, als Frau bist du immer der Arsch, weil du immer den Kürzeren ziehst, egal, wie du dich entscheidest. Schläfst du mit den Kerlen, hast du im besten Fall einen schlechten Ruf weg und im schlimmsten Fall die nächsten paar Jahre nichts als Ärger am Hals. Und wenn du’s nicht tust, machen sie dich fertig.« Sie setzte sich auf die Bettkanteund streckte die Beine aus, die ihr in den dunklen Röhrenjeans plump und unförmig vorkamen. Eilig wandte sie den Blick ab und sah ihre Schwester an. Ellis schmächtiger Körper unter der Bettdecke war kaum mehr als eine vage Kontur. Sie sah irgendwie angegriffen aus heute. Blasser als sonst. Mechanisch griff Winnie Heller nach ihrer Hand, die spastisch verformt in die Luft ragte wie ein abgestorbener Ast.
    »Und du?«, fragte sie zärtlich. »Wie ich sehe, hast du Mama und Papa mal wieder über dich ergehen lassen müssen?« Die Blumen, die in einer hässlichen blauen Keramikvase auf dem Nachtschrank gestanden hatten, hatte sie gleich bei ihrer Ankunft in den Mülleimer neben der Tür geworfen, in den auch die Spritzen und Kanülen und die leeren Infusionsbeutel wanderten. Stattdessen stand nun eine lachsfarbene Rose am Bett ihrer Schwester, denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie überzeugt, dass Elli diesen Farbton immer besonders

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