Der Beutegaenger
Vernachlässigung? Spionierte er seiner Frau nach? Würde Susanne es so empfinden? Dass er ihr nachspionierte? Er wusste es nicht. Seine Frau ließ ihn seit jeher nur sehr bedingt teilhaben an dem Leben, das sie führte. An ihren Gedanken. Ihren Gefühlen.
Und er wagte es auch nicht, sie unter Druck zu setzen. Zugleich verspürte er manchmal ein überwältigendes Bedürfnis, auf den Tisch zu schlagen, Position zu beziehen, ihr ins Gesicht zu schreien. Auch ich habe mir unser Leben anders vorgestellt. Auch ich, verdammt noch mal! Doch stattdessen schwieg er das Schweigen, für das sie ihn so sehr verachtete. Stand nachts auf, um ihr Handy zu kontrollieren. Ihre Brieftasche nach Belegen zu durchsuchen. Quittungen. Streichholzbriefchen. Beweise für etwas, das er längst als gegeben hinnahm. Manchmal, wenn es besonders schlimm gewesen war, hatte er auch schon an ihrer Unterwäsche gerochen. Aber was zum Teufel hatte er ihr getan, dass sie glaubte, ihn auf diese Weise demütigen zu müssen?
Er schreckte zusammen, als er sein eigenes Schluchzen hörte. Schnell drehte er sich zu seiner Tochter um. Sie schlief noch. Gott sei Dank. Er betrachtete sie eine Weile, bemüht, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Irgendwann würde auch sie ihre Freiheit brauchen, das wusste er. Und er wusste ebenso, dass er, wenn es eines fernen Tages so weit war, jeden Abend zu Hause sitzen würde, um darauf zu warten, dass sie zu ihm zurückkehrte. So wie jetzt ...
Er drehte sich wieder um und starrte auf das Lenkrad hinunter. Immerhin hatte ihm sein Anruf bei der Polizei die Erkenntnis beschert, dass kein Passat, wie Susanne ihn fuhr, in irgendeinen Unfall verwickelt gewesen war. Nur dass er sich jetzt, nach der ersten Erleichterung, keineswegs mehr sicher war, ob ihn diese Auskunft beruhigte. Susanne hatte keinen Unfall gehabt. Aber was dann? Was bedeutete ihr langes Ausbleiben? Lief es denn nicht gerade in letzter Zeit wieder etwas besser zwischen ihnen?
Er biss sich auf die Lippen. Das Einzige, was er im Augenblick noch tun konnte, war, abzuklären, ob seine Frau von derArbeit aus überhaupt das Auto genommen hatte. Und warum hätte sie das nicht tun sollen? Natürlich, dachte er, wenn sie vielleicht von jemandem abgeholt worden wäre ... Entschlossen startete er den Wagen. Zu seiner größten Verwunderung empfand er in letzter Zeit etwas wie Neid, wenn er an Susanne dachte. Neid auf die Freiheit, die sie sich nahm. Auf die Rücksichtslosigkeit, mit der sie diese Freiheit genoss. Gewöhnlich tat er solche Empfindungen als »Hausfrauenkoller« ab, aber es blieb etwas zurück. Jedes Mal ein bisschen mehr.
Als er auf den Parkplatz des Altenheims einbog, war es 22 Uhr 32. Um diese Uhrzeit standen nur wenige Fahrzeuge dort, und er hatte sich schnell davon überzeugt, dass der Passat seiner Frau nicht darunter war. Dennoch parkte er in der Nähe des Eingangs und schaltete den Motor aus.
Eine ganze Weile blieb er regungslos hinter dem Lenkrad sitzen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Jetzt war es so weit. Jetzt konnte er nichts weiter tun. Er war seinen Gedanken ausgeliefert, seinen Ängsten, seinen Zweifeln. Und etwas tief in ihm wusste bereits jetzt: Hierfür würde es keine Entschuldigung geben – bei aller Bereitschaft von seiner Seite, seiner Frau zu glauben, was auch immer sie sagen würde.
Mittwoch, 18. Oktober 2006
Als Verhoeven erwachte, sah er eine Reihe von Lichtklecksen über sich, die eine lange, geordnete Kette bildeten. Erst nach und nach wurde ihm bewusst, dass es Tageslicht war, was er sah. Ein frühes, mattes Tageslicht, das durch die Ritzen eines Rollladens fiel.
Er hob den Kopf, der sich eigenartig leer anfühlte, und erkannte an der gegenüberliegenden Wand das Ölbild, das seine Schwiegereltern ihnen im letzten Sommer vermacht hatten, vermutlich einzig und allein in dem Bestreben, das düstere Monstrum loszuwerden. Ein Original selbstverständlich, eins achtzig mal eins zwanzig, Öl auf Leinwand, violette Pfingstrosen und eine Schale mit toten Fischen im Vordergrund. Ein karger Lichteinfall von links oben. Mit dem Bild kehrte die Erinnerung zurück. Das Luigi’s. Ullas wirre Liebeserklärung an den verstorbenen Exmann, irgendwann weit nach Mitternacht. Die glasigen Blicke der Kollegen. Der Taxifahrer, der ihn direkt vor der Haustür abgesetzt hatte. Die wirren Albträume, die ihn danach aus einem wenig erholsamen Schlaf gerissen hatten. Wieder und wieder. Mühsam
Weitere Kostenlose Bücher