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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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zeitig aufgezogenen Winterreifen knirschte der Schotter. Seit sie vor ein paar Jahren in den Ruhestand getreten waren, trafen sie sich regelmäßig zweimal in der Woche zum Lauftraining und überboten sich dabei an Ehrgeiz, was zur Folge hatte, dass sie beide gut austrainiert waren. »Generation sechzig plus«, wie Dietrichs gern sagte. »Wach, frisch und zahlungskräftig.« Durch die Heckscheibe des Peugeot beobachtete er, wie sein ehemaliger Kollege den Schlüssel abzog und dann mit kleinen, hektischen Gesten kontrollierte, ob er Licht und Radio ausgeschaltet hatte. Jetzt fährt er sich noch durch die Haare, und dann steigt er aus, dachte Dietrichs halb amüsiert, halb entnervt. Er hatte sich noch immer nicht endgültig entschieden, ob er die routinierte Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, als angenehm empfand oder ob sie ihm Angst machte. Wir können einander nichts vormachen, dachte er oft. Er kennt mein Leben und ich das seine. Ich weiß, wann er ins Bett geht und wie oft er mit seiner Frau schläft. Ich kenne die Höhe der Raten, mit denen er sein Haus abbezahlt hat, und ich weiß, dass seine Tochter sich nur bei ihm meldet, wenn sie wieder einmal Geld braucht. Wir kennen die Versäumnisse des anderen so gut wie unsere eigenen. Wir wissen von unseren Ängsten, die bis auf ein paar unbedeutende Nuancen dieselben sind. Und wenn einer von uns stirbt, wird es sein, als ob man uns halbiert hätte.
    »Du bist spät dran«, rief er, als sein Kollege endlich ausgestiegen war.
    »Gottverdammter Berufsverkehr. Sie fahren alle zu spät los, und dann hupen sie dir die Hucke voll.« Fäth schlug die Fahrertür zu und ließ Dinah, seine vierjährige Schäferhündin, aus dem Kofferraum. Sie begrüßte Dietrichs, der wie immer ein Stückchen Wurst für sie in der Tasche seines Jogginganzugs versteckt hatte, mit freudigem Schwanzwedeln und zogsich gleich, nachdem sie ihr Leckerli erhalten hatte, wohlweislich in den Schatten der Kühlerhaube zurück.
    »Du weißt genau, dass ich es auf den Tod nicht ausstehen kann, wenn der Hund solchen Mist frisst«, polterte Fäth, indem er einen energischen Doppelknoten in die Schnürsenkel seiner Laufschuhe machte. »Wenn diese verdammte Fütterei schon unbedingt sein muss, dann gibt es doch diese speziellen . . . «
    »Was macht Hannahs Knie?«, unterbrach Dietrichs seinen Freund mit einem Lächeln, dessen Vertrautheit Fäth für einen Augenblick allen Wind aus den Segeln zu nehmen schien.
    »Sie wird alt«, sagte er, als verwundere ihn diese Tatsache. »Es heilt nicht mehr so schnell wie früher.«
    »Aber sie macht ihre Übungen?«
    » Ich mache ihre Übungen«, entgegnete Fäth. »Ich beuge und strecke ihr Bein und schleife sie hinter mir her die Treppe zum Schlafzimmer hoch und anschließend wieder runter. Und wenn sie zu laut schreit, machen wir das Ganze gleich noch einmal.« Er lachte freudlos und riss am Reißverschluss seiner Jacke, der sich verhakt hatte. »Scheiße noch mal, ich kann’s nicht ertragen, in ihrem Gesicht zu sehen, wie alt ich bin, weil ich mich weiß Gott nicht so fühle. Aber dieses verfluchte Weib bringt es fertig, noch den gesündesten Geist mit ihrer gottverdammten Resignation anzustecken.«
    Er lachte wieder, aber Dietrichs wusste nur zu gut, wie ernst es ihm war und dass er seine Frau trotz aller Differenzen aufrichtig liebte. Er hat Angst, dass sie eines Morgens, wenn er aufwacht, nicht mehr da ist, dachte er. Und diese Angst wird mit jedem Jahr schlimmer.
    »Es tut weh. Es geht nicht«, ahmte Fäth indessen wenig erfolgreich die samtweiche Stimme seiner Frau nach. »Nach Ägypten? Ach, Helmut, und wenn die Terroristen unser Hotelin die Luft jagen?« Er schnaubte verächtlich und sprach wieder normal: »Dann wären wir wenigstens beide weg, sage ich immer zu ihr, und hätten vorher sogar noch die Pyramiden gesehen. Aber die Pyramiden interessieren meine Dame einen Scheißdreck, vor allem, wenn sie sich erst in einen Flieger setzen muss, um hinzukommen.« Er hieb mit beiden Händen auf seine Oberschenkel ein, um die Muskeln zu lockern, doch es sah eher aus, als wolle er sich für irgendein schwerwiegendes Vergehen bestrafen. »Erinnerst du dich noch an ihre Gallenblasenoperation? Bei ihr ist es immer gleich Krebs gewesen, ganz egal, was die Ärzte gesagt haben.« Er blickte auf und sah seinen Freund an. »Es ist, als ob sie ihr ganzes Leben lang auf den Tod wartet.«
    »Solche Leute leben für gewöhnlich am längsten«, sagte Dietrichs.
    »Ja,

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