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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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gemocht hatte, auch wenn sie sich rückblickend an nichts erinnerte, was diese Annahme untermauert hätte. »Haben sie gesagt, was sie wollten?« Sie betrachtete Ellis noch immer sehr schönes Gesicht, suchte es nach einer Reaktion ab, nach etwas, das ihr verriet, wie ihre Schwester den seltenen Besuch ihrer Eltern verkraftet hatte. »Ich wette, Mama ist noch dürrer geworden, was?«
    Sie hörte ihr eigenes Lachen. Es klang hohl zwischen den hohen Wänden. Das Pflegeheim war in einem ehemaligen Gutshof untergebracht. Sehr exklusiv. Sehr teuer. Hohe Wände, hohe Fenster, Stuckdecken. Oh ja, dachte Winnie, meine Eltern haben ihre Tochter in einer überaus feudalen Versenkung verschwinden lassen. Aber warum waren sie heute hier gewesen? Sie kamen doch sonst nur zu Weihnachten und an Ellis Geburtstag. Was hatten sie gewollt? Und warum, verdammt noch mal, sah Elli heute Abend so schlecht aus?
    »Wenn du doch nur mit mir sprechen würdest«, sagte siemehr zu sich selbst als zu ihrer Schwester, denn tief in ihrem Inneren war sie noch immer felsenfest davon überzeugt, dass Elli das konnte, sprechen. Sie blickte in die großen blauen Augen, die sich ziellos hin und her bewegten, und fühlte eine tiefe Resignation. Es war Ellis Entscheidung, dieser Welt fernzubleiben, und sie war enttäuscht, dass sie selbst ganz offenbar keinen ausreichenden Grund darstellte, um ihre Schwester zu einer wie auch immer gearteten Rückkehr zu bewegen. Natürlich, der Arzt hatte ihr gesagt, dass Elli sie nicht hören könne. Dass ihr Gehirn unwiderruflich zerstört sei. Dass es keinen Sinn habe, sie auf dem Laufenden zu halten, weil sie gar nicht in der Lage sei, irgendwelche Informationen in sich aufzunehmen oder gar zu verarbeiten. Aber was wussten denn die Ärzte! Sie verfolgte Diskussionsrunden zu diesem Thema, so oft es ging, und die Aussagen der Experten waren so gegensätzlich wie die Prognosen, mit denen die Angehörigen der Betroffenen konfrontiert wurden. Und es kam durchaus vor, dass Patienten, die ähnlich lange im Wachkoma gelegen hatten wie Elli, urplötzlich wieder aufwachten. Nicht sehr häufig zwar, aber es kam vor. Nicht bei Ihrer Schwester , hatte der Arzt gesagt. Aber das glaubte sie ihm nicht ...
    »Du hättest sehen sollen, wie die Kollegen mich angestarrt haben«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, indem sie Ellis weiches braunes Haar streichelte. »Die halten es glatt für einen Witz, dass eine wie ich es bis zur Mordkommission geschafft hat, noch dazu ganz ohne Protektion und . . .« Sie hielt inne. Ihre Schwester hatte sich bewegt. Die Hand, die früher so virtuos Klavier gespielt hatte, lag entspannt und ausgestreckt auf der frisch bezogenen Bettdecke. Automatismen, sagte der Arzt. »Komm schon, Schatz«, flüsterte Winnie. »Willst du mir denn gar nicht gratulieren?«
    Die blauen Augen waren jetzt geschlossen.
    »Elli?«

Amelie Leistner schlief tief und fest. Sie merkte nicht, wie ihr Vater sie in eine Decke wickelte, zum Auto trug und vorsichtig in ihrem Kindersitz festschnallte. Gernot Leistner war besorgt. In den drei Jahren ihrer Ehe war Susanne schon oft spät nach Hause gekommen. Aber jedes Mal hatte sie dafür Gründe genannt. Er hatte diese Gründe niemals nachgeprüft und bezweifelte, dass sie immer der Wahrheit entsprachen, aber Fakt war, dass seine Frau nie ohne Ankündigung ausgeblieben war. Immer hatte sie zumindest von unterwegs aus angerufen, um ihm zu sagen, dass er nicht auf sie warten solle. Nur heute nicht ...
    In seiner Ratlosigkeit hatte er seine Eltern angerufen, seine Schwiegermutter und Lisa, Susannes beste Freundin. Doch niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Bei keinem hatte sie sich gemeldet. Im Altenheim hatte er nur noch den Nachtpförtner erreicht, der versucht hatte, ihn mit dem Hinweis auf die üblichen Öffnungszeiten und den Dienstschluss der Verwaltung abzuspeisen. Schließlich hatte er bei der Polizei angerufen, aber natürlich hatte man ihn dort nicht weiter ernst genommen. Eine erwachsene Frau, die sich einfach einen netten Abend machte und vergessen hatte, ihren Ehemann davon in Kenntnis zu setzen. Die Stimme des Beamten hatte amüsiert geklungen. Die arme Frau. Kann scheinbar nicht mal pinkeln gehen, ohne dass der Ehemann durchdreht. Was für ein Trottel!
    Gernot Leistner zog die Fahrertür zu und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Dann tastete er über seine Schulter nach dem Gurt. Wo war die Grenze zwischen Fürsorge und Obsession? Zwischen Freiheit und

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