Der Beutegaenger
richtete er sich auf, wobei er das Gefühl hatte, jeden einzelnen Knochen seines Körpers zu spüren. Er hatte seine Armbanduhr auf dem Couchtisch abgelegt, die andere, die wertlose, nicht die von Grovius. Sie zeigte wenige Minuten nach sieben.
Aus der Küche auf der anderen Seite des Hauses drangen gedämpfte Geräusche an sein Ohr. Silvie machte Frühstück. In einer Stunde würde sie Nina zur Tagesstätte bringen, um sie ein paar Stunden später, gegen Mittag, wieder abzuholen.
Noch ... Er war kaum wach und fühlte dennoch schon wieder diesen kalten Zorn in sich aufsteigen, den er noch nie zuvor an sich beobachtet hatte. Warum musste Silvie unbedingt wieder studieren? Reichte es nicht, einem so wundervollen Kind wie Nina eine gute Mutter zu sein? Was war falsch an einer funktionierenden Ehe, einem Haus, einem gesicherten Einkommen? Was daran genügte nicht?
»Papa?«
Die kräftige und angesichts ihres Alters erstaunlich sonore Stimme seiner Tochter ließ ihn zusammenzucken. Er hörte, dass sie Angst hatte. Angst, weil ihr Vater nicht in seinem Bett, sondern auf der Couch im Wohnzimmer lag. Weil etwas anders war, als sie es kannte. »Alles in Ordnung, Schatz«, sagte er mit einem Lächeln, das sich irgendwie schief anfühlte. »Papa ist da.«
»Warum hast du hier geschlafen?« Sie kam langsam durch den Raum und blieb direkt vor der Sofakante stehen.
»Es ist ein bisschen später geworden gestern Abend«, versuchte er es mit einem Teilgeständnis. »Und ich wollte Mama nicht wecken.«
Nina war gerade vier geworden, aber der Blick, mit dem sie ihn bedachte, schien wesentlich älter zu sein. Sie glaubt mir kein Wort, dachte er, schlug die raue Wolldecke zurück, nahm seine Tochter auf den Schoß und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.
»Du kratzt«, beschwerte sie sich kichernd.
Schnell wandte er den Kopf zur Seite.
Aus den Augenwinkeln registrierte er ihre nachdenkliche Miene. Und wieder diesen Blick.
»Bist du traurig?«
Silvies Schritte in der Diele entbanden ihn von einer Antwort auf diese unbequeme Frage. »Aufgeht’s, Herzchen«, rief seine Frau, indem sie die Rollläden hochzog und die Terrassentüröffnete. Es klang fröhlich, wie sie das sagte, aber er kannte sie zu gut, als dass er dem Frieden so ohne Weiteres getraut hätte. »Zeit für deine Schokopops.«
Nina rührte sich nicht von der Stelle. »Papa ist traurig.«
Silvie drehte sich um. »Ja«, sagte sie mit einem leisen Seufzer, der ihn unvermittelt mit einer Woge von Glück überflutete. »Ja, ich weiß.«
»Warum denn?«
Sie kam zum Sofa herüber und nahm ihre Tochter bei der Hand. »Weil jemand gestorben ist, den Papa sehr gernhatte. Und weil er diesen Menschen jetzt nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihm sprechen kann. Verstehst du das?«
Aus irgendeinem Grund hatte Verhoeven Angst vor dem, was seine Tochter antworten, wie sie reagieren, was sie tun würde. Angst, dass sie wieder näher kam. Ihn trösten wollte. Aber du brauchst doch nicht traurig sein. Onkel Grovius ist doch jetzt im Himmel. Etwas in dieser Art. Doch Nina sagte nichts. Sie sah ihn einfach nur aus ihren riesigen braunen Augen an. Nach einer ganzen Weile nickte sie überaus ernsthaft vor sich hin. Dann ging sie wortlos aus dem Raum.
Verhoeven blickte ihr nach und fühlte fast schmerzhaft, wie sehr er seine Tochter liebte. Nina war ein ganz besonderes Kind und sicherlich völlig anders, als er sie sich vielleicht irgendwann einmal vorgestellt hatte, früher, bevor sie auf die Welt gekommen war. Sie war kein typisches Mädchen, nicht schmiegsam und keine Spur kokett. Stattdessen stellte sie viele Fragen und schien trotz ihres zarten Alters ein nicht enden wollendes Bedürfnis zu haben, hinter den Vorhang zu blicken. Das wahre Wesen einer Sache zu durchschauen. Und obwohl ihm durchaus bewusst war, dass ihr Leben mit einem derart investigativ veranlagten Verstand nicht gerade einfach werden würde, empfand er doch etwas wie Stolz, wann immer ihr Forschergeist aufblitzte.
Er tauschte einen Blick mit Silvie. »Versprichst du mir, dass sie nicht darunter leiden wird, wenn du wieder studierst?« Sie sah ihn an. »Ja.«
»Und versprichst du mir auch, dass du keine Musik bestellst, wenn ich im Dienst erschossen werde?«
Jetzt lachte sie plötzlich. Laut und ungezwungen. »Nicht mal ein bisschen Geige?«
Er lachte mit ihr, und zu seiner Erleichterung fühlte es sich durchaus echt an. »Untersteh dich!«
Als Hedi Apsner die Tür zum
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