Der Beutegaenger
ich mich wohl oder übel mit der Dame in Verbindung setzen müssen.« Holger Grovius hob den Karton und kippte seinen Inhalt achtlos auf den Tisch. »Wenn Sie sie sehen, können Sie ihr ausrichten, dass sich auch meine Anwälte in Kürze bei ihr melden werden.«
Verhoeven fühlte seine unverhohlen taxierenden Blicke im Rücken, als er ging. Als ob der andere sicherstellen wollte, dass er nichts Wertvolles aus der Wohnung mitnahm. Er zog die Tür hinter sich zu und hörte das Geräusch des Schlüssels im Schloss, kaum dass er den Fahrstuhl erreicht hatte.
Holger Grovius hatte ihn ausgesperrt.
Winnie Heller duschte lange und ausgiebig. Als sie den von daumennagelgroßen Schimmelflecken übersäten Duschvorhang zurückschob, waren Spiegel und Kacheln so beschlagen, dass die Feuchtigkeit in dicken Tropfen daran herunterrann. Sie ließ die Badezimmertür offen, zog sich frische Unterwäsche und ein anderes Sweatshirt an undgab den Fischen Futter. Dann schaltete sie den Fernseher ein, sah die Nachrichten und aß das letzte Viertel der Pizza, die sie auf dem Rückweg aus dem Stadtwald besorgt hatte. Der Teig war so lappig, dass sie mit beiden Händen zufassen musste.
Auf der Theke vor der Küchenzeile stand der Karton, den sie am Morgen für ihren ersten Tag bei der Mordkommission zurechtgepackt und vor rund zwei Stunden unausgepackt wieder mitgebracht hatte. Ein paar Handbücher aus der Zeit ihrer Ausbildung, ein gerahmtes Foto von Elli und ihr am Strand von Fehmarn, eine Strickjacke, falls es mal spät wurde, Handwaschlotion, Haarbürste. Sie nahm den Karton von der Theke und stopfte ihn in die hinterste Ecke des großzügigen Wandschranks, der zu den ausgemachten Vorzügen ihres kleinen Reichs zählte. Sie hatte ohnehin nicht vorgehabt, sich großartig einzurichten. Da konnte sie genauso gut ganz auf eine persönliche Note verzichten. Außerdem würde es ja sowieso Grovius’ Schreibtisch bleiben, ganz egal, was sie auch anstellte.
Mit einer entschlossenen Bewegung schlug sie die Schranktür zu und zog ihre alte mechanische Schreibmaschine aus dem Regal unter der Theke hervor. Sie nahm sich ein Glas Wasser aus der Leitung, das sie hastig hinunterkippte, und tippte anschließend anhand ihrer Notizen ihre Berichte über die Gespräche, die Verhoeven und sie an diesem Tag geführt hatten, stolz, dass sie daran gedacht hatte, sich die entsprechenden Formulare mit nach Hause zu nehmen. Als sie fertig war, las sie alles noch einmal sorgfältig durch. Dann nickte sie zufrieden, stopfte die Aufzeichnungen in ihre Tasche und fuhr zum Präsidium, wo ihr auf ihrer Etage nur noch der Putztrupp begegnete.
Sie machte kein Licht, als sie das Büro betrat, konnte aber dennoch nicht umhin, zu bemerken, dass Verhoeven denSchreibtisch seines Gottes tatsächlich ausgeräumt hatte. Das Relikt des selbst ernannten Superbullen des Jahrhunderts wirkte in seiner geplünderten Nacktheit überproportional riesig und erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie in diesem Büro eine Fremde bleiben würde. Ein Eindringling in den Club der Macher, die sich gegenseitig die Ärsche küssten. Der mehr als armselige Ersatz für einen Pfeife rauchenden Obermacho, der an seiner Legende gestrickt hatte wie ihre Oma ’42 für die Ostfront. Sie erschrak, als sie fühlte, wie die Enttäuschung, die sie bereits überwunden glaubte, unvermittelt wieder von ihr Besitz ergriff. Zögernd machte sie einen Schritt auf Grovius’ Schreibtischmonster zu und berührte mit dem Finger das klapprig wirkende graue Telefon, das entfernt nach Desinfektionsmitteln roch. Ob Verhoeven tatsächlich erwartete, dass sie sich hier einrichtete, dass sie es wagte, die kostbare Reliquie mit ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit zu entweihen? Sie zog die Hand zurück und schnaubte verächtlich. Ich kann ihn nicht leiden, dachte sie. Ich werde ihn nie leiden können. Sie legte ihren Bericht mitten auf Verhoevens Schreibtisch und ging zur Tür, von wo sie noch einmal zurückkehrte, um die Seiten ein wenig sorgfältiger auszurichten.
Dann fuhr sie zu ihrer Schwester.
Elli sah noch genauso schlecht aus wie gestern. Vielleicht sogar noch ein bisschen blasser. Außerdem wirkte sie eigenartig unruhig. Die Spasmen in ihren Gliedmaßen schienen sich verstärkt zu haben, und ab und an hob ein ungewöhnlich tiefer Atemzug die zarte Brust.
Winnie Heller zog sich einen Stuhl heran und überlegte, ob all dies ein Zeichen dafür sein konnte, dass ihre Schwester allmählich aus dem Koma
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