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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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Laufen überlegte sie, warum es auf einmal so still war. Kein entferntes Verkehrsrauschen. Nicht einmal ein Flugzeug, das über ihren Kopf hinwegdröhnte. Nur ihr eigener keuchender Atem. Und wieder bergauf. Eine neue Anhöhe. Eine neue Anstrengung.
    Nach einer Zeit, die ihr unendlich lang vorkam, erreichte sie den Weg, auf dem Susanne Leistner ihrem Mörder begegnet sein musste. Sie blieb stehen und wischte sich mit dem Ärmel ihres Trainingsanzugs den Schweiß von der Stirn. Indem sie in gemächlicherem Tempo weiterging, versuchte sie sich in Susanne Leistners Lage zu versetzen. Es regnet nicht mehr. Sie ist allein. Sie schwitzt, denn sie ist bereits vier Kilometer weit gelaufen. Gejoggt. Und er? War er ebenfalls gejoggt? Ihr nachgelaufen? Sie blickte über ihre Schulter zurück. Der Weg hinter ihr war schnurgerade. Wie folgte man jemandem in diesem Gelände? Wie schlich man sich an eine Joggerin heran? Wo zum Teufel hatten diese Frauen ihre Instinkte?
    Als sie wieder nach vorn blickte, sah sie einen Schemen auf dem Weg vor sich. Die Silhouette eines Menschen. Jemanden, der ihr entgegenkam. Erst mit Verzögerung begriff sie, dass sich das, was sie sah, nur in ihrer Fantasie abspielte. Das schwindende Tageslicht verlieh dem Ort eine seltsame Aura. Etwas Unwirkliches lag in der Luft. Etwas, dessen Bedeutung sich Winnie Heller nicht vollständig erschließen wollte. Sie blieb abermals stehen und presste sich eine Faust in die Flanke. Du bist ihr gar nicht nachgelaufen. Du wusstest, welchen Weg sie nimmt. Wie lange sie dafür braucht. Du musstest nichts weiter tun, als auf sie zu warten. Aber wo? Hast du dich versteckt? Oder bist du ihr ganz offen entgegengegangen? Sie merkte, wie die Aufregung ihren Puls beschleunigte. Hatte Susanne Leistner ihren Mörder kommen sehen, hatte sie ihnvielleicht gar gegrüßt, so wie man es eben tut, wenn man plötzlich und unerwartet einem fremden Menschen begegnet? Oder war diese Begegnung gar nicht so unerwartet gewesen? Hatte Susanne Leistner am Ende gar eine Verabredung gehabt? Bei solchen Gelegenheiten trug sie gewöhnlich etwas mehr Make-up zu ihren Turnschuhen , flüsterte Monika Gerling irgendwo in ihrem Kopf. Also doch ein Fremder, dachte sie. Susanne Leistner kommt diesen Weg entlang und begegnet einem Menschen, den sie nicht kennt oder zumindest nicht erwartet hat. Und dann? Was war dann geschehen? Wann hatte die junge Mutter begriffen, dass der Mann, der ihr entgegenkam, sie töten würde? Hatte sie es überhaupt begriffen? Hatte es ihn gegeben, diesen einen ganz klar definierten Moment, in dem Susanne Leistner erkannt hatte, dass sie nicht davonkommen würde? Aber warum hatte sie sich dann nicht gewehrt?
    Winnie Heller sah wieder hinter sich. Es war längst dämmrig geworden, und die Kühle des Waldes vertiefte sich mit jeder Minute. Eine plötzliche Angst jagte ihr eine Welle von Adrenalin durch den Körper. Es war eine Urangst, dumpf und elementar. Einsamkeit. Dunkelheit. Sie musste vollkommen verrückt sein, so spät noch einmal hierher zurückzukommen! Ihre Dienstwaffe lag zu Hause, wo sie sich in aller Eile umgezogen hatte. Sie war ein Idiot. Und sie war allein. Ganz allein. Was in aller Welt hatte sie sich nur dabei gedacht? Manche Mörder zieht es an den Tatort zurück . Sie sind auf der Suche nach Auffrischung. Nach der Angst, die sie zurückgelassen haben. Die noch immer in der Luft hängt. Die sie wittern können. Wie ein Tier. Mörder wie der, den wir suchen, riechen die Angst, und sie riechen die Schwäche. Nach diesen Kriterien suchen sie ihre Opfer aus. Oder? Winnie Heller zog den Reißverschluss ihrer Trainingsjacke hoch bis unters Kinn. Wenn es ihr nur möglich wäre, zu verstehen, was hier geschehen war. Wenn esihr gelang, sich einen Vorsprung zu verschaffen. Sie dachte an Verhoeven. Der Tod seines Gottes schien ihn schwer getroffen zuhaben. Sie hatte den Eindruck, dass er vollkommen neben sich stand. Und genau das war ihre Chance. Die Chance, auf die sie seit langem gewartet hatte.
    Als sie ein Geräusch hörte, hob sie den Kopf. Ein Ast. Oder Laub. Ein Vogel. Nein, kein Vogel. Irgendwas Nachtaktives. Etwas, das sich im Dunkeln bewegte. Ein Tier. Sie sah sich um. Der Wald schien immer näher zu rücken. Sie wusste, dort, wo der Weg endete, hing ein Schild mit der Aufschrift ZIEL. Es war ihr schon am Vormittag aufgefallen, und sie war sich der Ironie, die in dieser Tatsache steckte, sehr wohl bewusst. Susanne Leistner war beinahe am Ziel gewesen.

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