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Der Beutegaenger

Titel: Der Beutegaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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nackten Körper zerrend, und für einen flüchtigen Augenblick hatte sie sogar das Gefühl, noch einmal das billige Aftershave zu riechen, mit dem Timo Wendel sich auf ihre Entjungferung vorbereitet hatte. Neben ihm auf dem Nachtschrank hatten die Kondome gelegen, die sie besorgt hatten, jeder unabhängig vom anderen. Dazu seit ein paar Monaten auch die Pille, nur, um ganz sicherzugehen. Sie spürt die Kälte, die an ihrem nackten Rücken herunterstreicht, und weiß, dass etwas Schlimmes geschehen ist, lange bevor der Mann im Türrahmen den Mund aufmacht ...
    Die plötzliche Erinnerung an diesen einen, diesen folgenschweren Augenblick war so gestochen scharf, dass sie noch weniger als sonst verstand, wie ihr die Geschehnisse der darauffolgenden Monate beinahe komplett abhandenkommen konnten. Aber genauso verhielt es sich. Da war der Psychologe in der Tür zu Timo Wendels typischem Jungenzimmer, und dann folgte der Sprung auf jenen trüben Herbsttag, an dem Dr. Zilcher, ein anderer Psychologe, gewagt hatte, ihr zu sagen, dass sie den Beginn ihrer Ausbildung verpasst habe und deshalb ein halbes Jahr warten müsse. Aus dem halben Jahr war ein ganzes Jahr geworden. Und selbst dann, mehr als zwölf Monate nach dem Unfall, hatte sie nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte die nötige Energie für das Grundstudium aufgebracht, wissend, dass sie sich ihre Zulassung mit einer faustdicken Lüge erschwindelt hatte, die jederzeit auffliegen konnte. Schon während der Gruppendiskussion undder anschließenden Einzelvorstellung vor der Auswahlkommission hatte sie Blut und Wasser geschwitzt vor Angst, dass sie sich irgendwie verraten würde, aber zu ihrer eigenen Überraschung war alles glattgegangen, und sie hatte ihre Ausbildung beginnen können. Damals war Elli bereits hier gewesen, in diesem stinkvornehmen Heim, dessen Pflegepersonal angeblich über besondere Qualifikationen auf dem Gebiet des apallischen Syndroms verfügte, obwohl es überwiegend an Demenz erkrankte Senioren zu betreuen hatte. Winnie Heller biss sich auf die Lippen. Sie hatte ihre Mutter nicht zurückgerufen. Nicht vom Präsidium aus und auch nicht später, von zu Hause. Warum auch? Sie hatten sich nichts zu sagen. Nichts, was sie einander nicht schon hundertmal gesagt hätten. Sie war in die Damentoilette gegangen und hatte den zusammengeknüllten Zettel, auf dem Werneuchen gewissenhaft sogar noch die Uhrzeit des Anrufs notiert hatte, in die Kloschüssel geworfen. Trotzdem konnte sie nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, was ihre Eltern von ihr gewollt haben mochten.
    Sie lehnte sich zurück und strich sich das Haar aus der Stirn, das am Ansatz noch immer ein wenig feucht war von der Dusche. Auf dem Nachtschrank hatte jemand die Liste vergessen, in der Ellis Werte eingetragen wurden. Daten, die ihr nichts sagten und die sie dennoch irgendwie beunruhigten. Blutdruck. Blutzucker. Puls. Was auch immer. Essen durch den Schlauch. Dreimal am Tag wurden die Windeln gewechselt.
    »Ich weiß, du kannst es schaffen«, flüsterte sie ihrer Schwester ins Ohr, die jetzt ruhig und friedlich wirkte. »Du musst nur darum kämpfen.«

Donnerstag, 19. Oktober 2006
    Am nächsten Morgen fuhr Verhoeven schon früh ins Präsidium. Obwohl er sich bemüht hatte, keinen Lärm zu machen, war Silvie aufgewacht.
    »Wohin gehst du?«
    »Zur Arbeit.«
    Sie hatte sich auf die Seite gerollt und nach dem Radiowecker neben seinem Bett geblinzelt. »Ein Notfall?«
    »Nein, nur viel zu tun.«
    »Soll ich dir Frühstück machen?«
    Er hatte sie auf die Stirn geküsst und gemurmelt, dass er problemlos unterwegs halten und sich ein belegtes Brötchen holen könne, doch sie hatte darauf bestanden, Kaffee zu kochen und Toastbrot zu rösten. Als er aus dem Bad gekommen war, hatten Marmelade und Honig und Joghurt mit frischen Apfelstücken auf dem Küchentisch gestanden, und Verhoeven hatte sich bei dem Verdacht ertappt, dass sie diesen Aufwand nur deshalb trieb, um ihm zu beweisen, dass er keine Abstriche zu befürchten brauchte. Dass sie das schaffte, Familie und Studium. Und genau das war ein Punkt, der ihm Sorgen machte. Er wusste, dass Silvie sich lieber zerrissen hätte, als zuzugeben, wenn eine Sache ihr über den Kopf wuchs. Das Problem war, dass sie nicht über die Vitalität und Kraft ihrer Schwester verfügte, der es mühelos gelang, morgens um sieben wie ein Filmstar auszusehen und nebenbei auch noch ein Frühstück auf den Tisch zu bringen, dessen Raffinesse und Umfang einem Grandhotel

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