Der Beutegaenger
erwachte. Dass der Tag, auf den sie seit sieben Jahren so sehnsüchtig wartete, endlich näher rückte. Auf sieben dürre Jahre folgten doch unweigerlich siebenfette, oder nicht? Hieß es nicht so, irgendwo in der Bibel? Oder brachte sie da etwas durcheinander?
»Ich weiß, dass es nicht leicht wird«, sagte sie laut, indem sie Ellis erschreckend kalte Hand fest in die ihre nahm. »Du wirst vieles neu lernen müssen und dich an ganz neue Leute gewöhnen. Aber wenn das einer schafft, dann du. Alles, was du tun musst, ist, den Mut dazu aufzubringen, verstehst du?« Sie ließ die Hand ihrer Schwester los und legte eine CD in den CD-Player, den sie auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Unfall gekauft hatte. Kurz darauf durchflutete eine Welle von Wohlklang den Raum. Mozarts F-Dur-Sonate, erster Satz. Eine alte Aufnahme mit Clara Haskil, eine echte Rarität, nach der sie lange hatte suchen müssen. Aber es hatte unbedingt Clara Haskil sein müssen. Nicht nur, weil Elli die Art der Schweizerin, Klavier zu spielen, so besonders gemocht hatte, sondern auch, weil Clara Haskil das Musterbeispiel eines Menschen war, der sich nicht unterkriegen ließ, der um seinen Traum kämpfte. Wirbelsäulenverkrümmung, Gipskorsett, Hirntumor, nichts von alldem hatte sie stoppen können. Und dabei hatte ihre Karriere erst in einem Alter richtig begonnen, in dem andere bereits ans Aufhören dachten. Winnie beugte sich vor und fasste wieder nach der Hand ihrer Schwester. Sie selbst verstand nicht allzu viel von Musik, auch wenn sie als Kind einige Jahre Klavierunterricht erhalten hatte. Tochter aus gutem Hause und dieser ganze Mist. Und Sie?, hörte sie Verhoeven fragen. Mögen Sie klassische Musik ? Sie verzog angewidert das Gesicht. Ein plumper, aber harmloser Versuch, Konversation zu machen, beruhigte sie sich, nichts weiter. Mögen Sie klassische Musik? Eigenartigerweise konnte sie sich nicht an ihre Antwort erinnern, obwohl das Gespräch, in dem Verhoeven ihr diese Frage gestellt hatte, erst ein paar Stunden zurücklag. Wenn sie darüber nachdachte, hielt sie es für wahrscheinlich, dass sie mit »Nein« geantwortethatte, aber sicher war sie nicht. Sie war sich ja nicht einmal sicher, was für eine Antwort der Wahrheit entsprach. Sie wusste, dass sie Mozart lieber mochte als Bach und Schumann lieber als Bartok, und sie erinnerte sich dunkel, dass irgendwelche Etüden von Czerny sie beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten, aber sie hätte nicht behaupten können, dass Musik sie in irgendeiner Weise geprägt hätte. Es war ihr lästig gewesen, wenn sie hier und da zu einem Konzert ihrer Schwester hatte gehen müssen, und sie hatte sich über die Blumen und das Goldkettchen geärgert, das ihre Eltern Elli geschenkt hatten, weil sie wieder einmal in irgendeine Endausscheidung gekommen war oder irgendeinen Nachwuchswettbewerb gewonnen hatte, für den sie selbst sich nicht im Mindesten interessierte. Trotzdem klammerte sie sich jetzt an Clara Haskil wie eine Ertrinkende an den sprichwörtlichen Strohhalm.
»Hörst du?«, flüsterte sie, indem sie sanft Ellis Hand drückte. »Dafür lohnt sich die Mühe, meinst du nicht auch?«
Als ihre Schwester endlich ein wenig ruhiger geworden war, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, starrte die gegenüberliegende Wand an und lauschte der Musik. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Schwester jemals wieder in der Lage sein würde, auch nur eine einzige Note auf dem Klavier zu spielen. Trotzdem hatte sie die Hoffnung, dass die Musik helfen würde. Sie würde Elli daran erinnern, wer sie gewesen war. Was sie gemocht, wofür sie gelebt hatte. Und wenn sie erst einmal wach war, würden sie schon etwas finden, das ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Winnie betrachtete das zarte Gesicht, das bei aller Zeitlosigkeit, die in diesem Zimmer herrschte, erwachsener geworden war. Vom Kind zur Frau, ohne es zu merken, dachte sie und fühlte eine tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken. Ihre Schwester war gerade einmal dreizehn gewesen, als ihr Vater sie von Winnies ausgelassener Abiturfeier geradewegs ins Koma gerast hatte.
Gerade erst dreizehn ...
Winnie Heller bewegte die Zehen ihres rechten Fußes, weil das Bein einzuschlafen drohte. Im Geiste sah sie wieder die weiß lackierte Tür vor sich, durch die der bärtige Psychologe getreten war, den sie hinzugezogen hatten, um sicherzustellen, dass ihr die Schreckensnachricht so schonend wie möglich unterbreitet wurde. Sie sah sich selbst, die dünne Bettdecke eilig um ihren
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