Der Beutegaenger
eher eine Frau, die ihr eigenes Ding machte. Sie hat schon die Gruppendiskussion beim Auswahlverfahren komplett in den Sand gesetzt , stimmte ein imaginärer Hinnrichs ihm zu. Wenn es bei ihr hapert, dann in punkto Sozialverhalten . Verhoeven griff wieder nach den Berichten und überlegte, wie er es anstellen konnte, sie stärker einzubinden. Ob sie zusammenwachsen würden, eines Tages? So weit, dass sie sich blind aufeinander verlassen konnten?
Er schob die Berichte an ihren Platz zurück und klappte dann mit einer entschiedenen Bewegung den Aktendeckel zu. Ein symbolischer Suizid ... Was bedeutete das? Susanne Leistner war erdrosselt worden. So weit, so gut. Aber dann hatte sich ihr Mörder die Mühe gemacht, sie in den Wald zu schleifen, um ihren Körper mit einem Messer zu traktieren, ihre Arme und besonders die Handgelenke. Zwei tiefe Verletzungen im Bereich der Pulsadern. Eine Chrysantheme. Verhoeven wusste, diese Blume war ein Symbol. Aber für was? Und was war mit dem angedeuteten Suizid? War der ebenfalls ein Symbol? Und wenn ja, für wen waren all diese Symbole bestimmt? Für das Opfer? Er blickte zum Fenster hinüber. Irgendwann in der letzten halben Stunde hatte es wieder zu regnen begonnen. Die Tropfen rannen in dünnen Rinnsalen an der beschlagenen Scheibe hinunter, hinter deres allmählich etwas heller wurde. Bisher hatten sie keinen Hinweis darauf gefunden, dass Susanne Leistner irgendeine besondere Beziehung zu Chrysanthemen gehabt hatte. Aber wenn die Blume nichts mit dem Opfer zu tun hatte, musste sie zwangsläufig etwas mit dem Täter zu tun haben, oder nicht? Oder sollten sie auf eine falsche Spur gelockt werden? Verhoeven nahm einen letzten Schluck von seinem Tee und goss den Rest in das kleine, gesprungene Waschbecken in der Nische hinter Grovius’ Schreibtisch. Aufjeden Fall hatten sie es hier nicht mit einer gewöhnlichen Beziehungstat zu tun. So viel immerhin war ihm klar.
Die Nacht war eine Katastrophe gewesen. Jetzt saß sie wieder am Küchentisch und starrte die beiden Brötchen an, die auf ihrem Teller lagen und die ihr heute noch unwirklicher vorkamen als sonst. Durch die Lamellen des Rollos vor dem Fenster sickerte trübes Tageslicht ins Haus. Kein Bilderbuchherbst heute früh, stattdessen dumpfes Regengrau. Bonjour tristesse .
Sie hatte keinen Appetit, trotzdem zwang sie sich, ein Brötchen aufzuschneiden. Während ihre Augen dem Messer folgten, das schnell und mühelos durch die warme Kruste drang, stellte sie fest, dass ihr Arm zitterte. Verwundert hielt sie inne. Das war absurd! Gestern, beim Anblick der Chrysanthemen, wäre das Zittern vielleicht angebracht gewesen, aber gestern hatte sich ihr Arm ganz ruhig verhalten. Er hatte sich der Vase auf dem Tresen genähert, und die Finger hatten sich ohne Murren fest und sicher um das kühle weiße Porzellan geschlossen, während ihr Mund gelacht hatte. Zumindest war es so etwas Ähnliches wie ein Lachen gewesen. Oder hatte sieam Ende doch geschrien? Sie ließ Messer und Brötchen sinken und starrte auf die blitzsaubere Tischplatte hinunter. Sie konnte sich nicht genau erinnern, was gestern geschehen war. Was sie gesagt, wie sie reagiert hatte. Nur dass ihr Arm nicht gezittert hatte, wusste sie genau. Eigenartig, dass er ausgerechnet jetzt damit begann.
Routinemäßig blickte sie zum Fenster hinüber, um sich zu vergewissern, dass ihr Arm nicht vielleicht doch einen Grund hatte, aber natürlich war das Fenster fest verschlossen. Niemals würde sie das vergessen, ein Fenster zu schließen, nachdem sie es für einen kurzen Moment geöffnet hatte. Auch nicht die Tür...
Sie sah wieder ihren Arm an, der zitternd wie Espenlaub über dem Marmeladenglas verharrte. Eigenartig war tatsächlich das Einzige, was ihr dazu einfallen wollte. Seit damals, seit der Geschichte im Schwimmbad, gehorchten ihr ihre Stimmbänder und auch der Rest ihres Körpers. Niemals wieder hatte sie die Kontrolle über irgendeinen Teil von sich verloren. Auch gestern nicht. Nicht einmal angesichts eines Straußes gelber Chrysanthemen, die ihr von der Theke am Empfang entgegengelacht hatten und die angeblich niemandem gehörten.
Oh doch, meldete sich eine Stimme tief in ihrem Kopf. Sie gehören jemandem. Sie gehören dir. Sie nickte. Ja, die Chrysanthemen waren für sie bestimmt gewesen ...
Sieh mal, die Blumen. Ich habe sie für dich gepflückt.
Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich sie nicht will!
Niemand hatte ihr sagen können, woher die
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